Die Aktion #bloggerfuerfluechtlinge geht weiter. In den vergangenen zwei Wochen haben sich mehr als 1900 Blogger und Unterstützer in den sozialen Medien zusammengetan, um ihre Solidarität mit den Menschen auszudrücken, die auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Verfolgung sind. Aktuell sind es über 400 Texte, die unter diesem Hashtag bereits entstanden sind. Auf der zentralen Webseite von „Blogger für Flüchtlinge“ [inzwischen offline]  sind sie  alle verlinkt. Viele erzählen, wie sie ganz konkret Hilfe leisten, mit Tipps zur Nachahmung. Ich beteilige mich heute ein zweites Mal, denn ich möchte von unseren Begegnungen mit afrikanischen Flüchtlingen im Mittelmeerraum während unserer 11-monatigen Reise durch Europa erzählen.

Mit eigenen Augen sehen

Natürlich stand dieser Themenkomplex keinesfalls im Zentrum unserer Aufmerksamkeit – unsere Motivation lautete „allgemeine Bildungsreise“. Wir wollten unseren heimatlichen Kontinent erkunden, mit allem drum und dran und viel Interesse für Geschichte und Kultur, aber nicht mit der Absicht, Missstände aufzudecken und politische Verhältnisse komplett zu durchdenken. Dennoch kommt man an dem Thema nicht vorbei, weder in Deutschland noch anderswo – dort noch viel weniger. Es sind Beobachtungen am Rande, von denen ich erzählen kann, keine tiefgehenden Insider-Einblicke. Aber ich erzähle sie trotzdem, denn es ist so wichtig, über den Tellerrand der heimischen Bequemlichkeit hinaus zu schauen.

Wir haben uns – wie berichtet – mit der Geschichte des Balkankriegs auseinandergesetzt. Wir sind (vor allem in Rumänien, aber auch in Serbien, Albanien, Mazedonien, Bulgarien, überall auf dem Balkan eigentlich) mit Roma in Berührung gekommen (auch darüber ließe sich ein ganzer Beitrag schreiben). Als wir im Januar dieses Jahres die Türkei erreichten, nahm dort gerade das Drama mit den syrischen Flüchtlingen seinen Lauf. Heute möchte ich aber von den afrikanischen Flüchtlingen vor allem in Italien und Spanien erzählen, denn diese Bilder waren für uns am krassesten.

Der „schwarze Mann“ auf der Rolltreppe

In Athen fällt mir zum ersten Mal ein Mann mit schwarzer Hautfarbe bewusst auf. Er steht vor mir auf der Rolltreppe, ist gerade aus derselben U-Bahn ausgestiegen wie ich, und während die Mechanik uns beide und viele andere zurück ans griechische Tageslicht transportiert, betrachte ich den Mann im Business-Anzug und denke nach. Mein erster Gedanke: „Ach guck, da sieht man’s mal wieder: Hautfarbe ist kein Indiz für Intelligenz und Erfolg. Der hier hat ja offenbar einen guten Job.“ Mein zweiter Gedanke: „Boah, war das jetzt rassistisch von mir! Wie komme ich denn dazu, das überhaupt in Zusammenhang mit der Hauptfarbe zu stellen?“

Von da an achte ich verstärkt auf Menschen mit dunkler Haut. Und ziemlich schnell wird mir klar, was mein Unterbewusstsein offenbar schon eine Weile registriert hat: Im Straßenbild sind Schwarze fast immer Repräsentanten der untersten Schicht und werden selten mit Respekt behandelt.

Sobald wir die Adria überquert haben und in Süditalien gelandet sind, lassen sie sich gar nicht mehr übersehen – Menschen mit augenscheinlich afrikanischem Erbgut, sowie die Tatsache, dass ihre Anwesenheit mit sozialen Problemen einhergeht. In Bari, in Taranto, in Palermo, in Neapel – überall sieht man sie, viele von ihnen, durch ihre optische Andersartigkeit grausam sichtbar wie der sprichwörtliche bunte Hund. Auf den Parkplätzen, die in Italien offiziell oft kostenlos sind, haben sie bei der Park-Mafia angeheuert und kassieren bei Einheimischen wie Touristen Gebühren, die wir prinzipiell als angemessen empfinden und andernorts ohne mit der Wimper zu zucken in Automaten stecken. In den Fußgängerzonen patrouillieren sie mit schweren Bauchläden voller Haushaltskrimskrams oder kauern vor bunten Decken, auf denen sie Souvenirkitsch, Modeschmuck oder Handyzubehör ausgebreitet haben. Die Decken sind an den Zipfeln mit einem Band verknotet. Sobald ein Polizist oder einer von der Gewerbeaufsicht auf der Bildfläche erscheint, raffen die Männer ihr Angebot blitzschnell zusammen und flüchten – mal wieder. Natürlich sind sie illegal hier, natürlich haben sie keinen Gewerbeschein, keine Arbeitserlaubnis. Natürlich kennen die Behörden das Problem und wissen, dass sie ihm nicht Herr werden können. Zehn Minuten später steht die Ware zwei Straßen weiter zum Verkauf.

Wie erklärt man seinen Kindern den Straßenstrich?

Noch trauriger sieht es bei den – vergleichsweise wenigen – Frauen afrikanischer Herkunft aus, die wir in Südeuropa zu Gesicht kriegen. Sie stehen am Straßenrand oder lungern breitbeinig auf billigen Gartenstühlen, manche tippen gelangweilt auf dem Handy, lackieren sich die Nägel. An ihrer Arbeitskleidung sieht man unverkennbar, welchem Beruf sie nachgehen. „Sind das Tramper?“ fragt Janis, der sich in Rumänien an diesen Transportweg gewöhnt hat. „So ungefähr“, sage ich ausweichend. Im Rückspiegel fange ich Silas‘ vorwurfsvollen Blick auf. „Ich glaube eher, das sind so Frauen, die man sich kaufen kann“, erklärt der Achtjährige weise seinem großen Bruder. „Die machen dann für Geld alles, was man will, oder Mama?“ Wir fahren an einer weiteren Frau vorbei, die aggressiv werbend mit dem Hintern wackelt. „Na ja, ist doch ganz praktisch, wenn man keine eigene Frau hat und nach der Arbeit nicht selber kochen will“, sagt Janis. Ich belasse es dabei, aber ich spüre, dass uns allen klar ist, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. „Die meisten von den Frauen sehen traurig aus“, sagt Janis nach einer ganzen Weile. Das stimmt gar nicht, die meisten grinsen von einem Ohr zum anderen, offenbar bemüht, durch Mimik und Gestik den Eindruck der Geschäftsbereitschaft zu vermitteln. Es ist ein aggressiver Straßenstrich in Süditalien, ganz besonders in den Ausfallstraßen südlich von Rom. Aber Janis ist gut darin, unter das Offensichtliche zu blicken. „Und mir fällt auf, dass alle dieser Frauen schwarz sind“, fügt Silas hinzu. „Jede einzelne.“

So sehen wir die Flüchtlinge. Wir können ja gar nicht wegschauen. Es sind viele. Natürlich, denn sie lösen sich ja nicht in Luft auf, wenn die Marine sie aus dem Mittelmeer gefischt hat, und sie können sich ja nicht alle auf Lampedusa stapeln. Wir machen keine Fotos – es käme mir falsch vor, diese Menschen in ihrer Würdelosigkeit festzuhalten, wenn auch nur fotografisch.

Auch in Südspanien sehen wir viele von ihnen. Als wir in Cadiz in einer Tapas-Bar eine Kleinigkeit zu Mittag essen, läuft der Fernseher und zeigt, wie in Tarifa erschöpfte Flüchtlinge vom Strand auf einen Bus zu geführt werden. Da ist gerade wieder eine größere Ladung gelandet. Ich erschaudere. Gestern erst waren wir in Gibraltar, auf dem Weg hierher sind wir fast in Tarifa vorbei gefahren. Das passiert hier buchstäblich um die Ecke! Ich werfe einen Blick auf die anderen Gäste in der Bar. Kaum einer nimmt Notiz von der Nachricht. Der Barkeeper sieht einmal kurz auf, dann serviert er den nächsten Espresso. So ist das halt.

Wer hat Angst vorm „Schwarzen Mann“?

Oft sieht man die Afrikaner im Pulk. Sie bleiben zusammen, klar, bilden eine gemeinsame Front gegen das unbekannte Land, das sie nicht gerade mit offenen Armen empfängt. Sie sprechen miteinander, manchmal laut, und manche fordern uns vehement auf, etwas zu kaufen. Die meisten von ihnen allerdings sind still. Es ist selten, dass ich sie lächeln sehe. So selten, dass ich mich in einem solchen Fall vor den weißen Zähnen erschrecke, die so unerwartet in dem dunklen Gesicht auftauchen.

Wenn wir an ihnen vorbei gehen, nimmt Silas meine Hand, und selbst Janis, der oft und gerne seine eigenen Wege geht, hält sich dicht bei uns. Ich analysiere meine Gefühle und muss zugeben: Auch mir ist irgendwie unwohl in der Nähe dieser Fremden. Da ist ein latentes Angstgefühl, durch nichts begründet als durch die offensichtliche Andersartigkeit der Gruppe. Es ist wohl ein psychologisch tiefsitzender menschlicher Zug, evolutionstechnisch begründet im Schutz des eigenen Erbguts, der sich sowohl bei ihnen als auch bei uns zeigt. Dass er nicht mehr nötig ist, in unserer zivilisierten Welt zumindest nicht nötig sein sollte, müssen die triebgesteuerten Urmenschen in uns erst lernen. Kein Ding der Unmöglichkeit, schließlich haben wir in unserer Zivilisationsgeschichte auch schon das uneingeschränkte Recht des Stärkeren, die Vormachtstellung des Mannes und unerwünschte Körperbehaarung besiegt (weitgehend jedenfalls).

Was geht uns das an?

Als EU-Staat, dazu einer in wirtschaftlicher Vorreiterrolle, darf Deutschland die südeuropäischen Länder auf Dauer nicht alleine lassen mit all diesen entwurzelten Menschen. Es werden nicht weniger. So bald wird sich an den Zuständen in Afrika nichts ändern, so sehr man darüber schimpfen mag. Der goldene Wohlstand Europas lockt, und es gibt genügend Mutige, Entschlossene und Verzweifelte, die den gefährlichen, illegalen Weg wählen. Menschen. Über kurz oder lang sehen wir auch in Deutschland mehr von ihnen, da bin ich mir sicher. Und selbst wenn sich ein paar Futterneider hinstellen und Steine werfen oder Heime anzünden, bleibt deswegen doch nicht ein einziger dieser Flüchtlinge zu Hause! Abgesehen davon, dass ihnen die organisierten Schlepper davon eh nichts erzählen, ist Bleiben oder Gehen für die verzweifelten und hoffnungsvollen Menschen keine Wahl zwischen Pest und Cholera, sondern höchstens die zwischen Ebola und Windpocken.

Wir werden lernen müssen, mit ihnen umzugehen. Und ich wünsche mir, dass wir das besser hinkriegen als unsere südeuropäischen Nachbarn. Ich möchte nämlich nicht in naher Zukunft auch zu Hause durch ein Straßenstrich-Spalier gescheiterter Hoffnungen fahren müssen und in Fußgängerzonen Gefahr laufen, illegalen Straßenverkäufern bei jedem unbedachten Schritt ihre Ware zu zertreten. Ich möchte diesen Menschen, die nun einmal hier sind, wenigstens auf Augenhöhe begegnen dürfen.

Ich glaube, es würde helfen, wenn es mehr dunkelhäutige Menschen in Business-Anzügen gäbe. Oder meinetwegen auch in Jogginghosen, solange man sie samstagsmorgens beim Bäcker oder auf dem Elternabend im Kindergarten trifft. Die von „besorgten Bürgern“ gerne geforderte totale Assimilation (also die vollkommene „Deutschwerdung“ bei Verhalten und Erscheinungsbild) ist gar nicht nötig. Eine wohlverstandene Integration (also eine aktive Teilnahme an der deutschen Gesellschaft mit gegenseitigem Respekt für die jeweiligen Werte und Normen, solange sie vom Grundgesetz gedeckt sind) reicht völlig aus. Aber dazu müssen auch wir unseren Teil leisten. Die Politik muss dafür sorgen, dass Flüchtlinge, Asylbewerber, Einwanderer (und Einheimische!) einen adäquaten Zugang zu Bildung erhalten, damit die Menschen, die zu uns kommen, ihren Teil der Integrationsleistung überhaupt erbringen können. Und wir, jeder einzelne von uns, sind gefordert, unsere bewusste oder unbewusste Ablehnung zu überwinden und diesen Menschen auf menschlicher Ebene eine Chance zu geben.

Oder sonst!

Der ehemalige Asylrichter Peter Vonnahme hat einen sehr starken Text veröffentlicht, der seit ein paar Tagen durchs Internet geistert: „Vorboten einer neuzeitlichen Völkerwanderung“ [inzwischen offline]. Trotz seiner Länge empfehle ich ihn dringend zu lesen – weil er sich mit meinen eigenen Beobachtungen in Südeuropa deckt und ich glaube, dass er auf ganzer Linie recht hat. Ein kurzer Auszug mit der Quintessenz:

„Wir müssen lernen zu teilen. Das ist zwar nicht einfach, aber notwendig. Wenn wir es aufgrund eigener Einsicht nicht schaffen, dann werden sich die Benachteiligten dieser Erde ihren Anteil irgendwann holen. Denn im Vergleich zu früher wissen heute auch die Ärmsten viel über uns und unsere Lebensumstände. Die informierte Weltgemeinschaft wird Ungleichgewichte nicht auf Dauer hinnehmen. Die Alternative ist im Grunde sehr einfach: Entweder wir geben den Armen so viel von unserem Wohlstand ab, dass sie glauben, es lohnt sich, in der Heimat zu bleiben oder, wenn wir dazu nicht fähig sind, dann werden sie sich ihren Anteil bei uns abholen. Diesen Vorgang bezeichnet man verniedlichend als Völkerwanderung.“

Die Aktion #bloggerfuerfluechtlinge ist eine freie Initiative, die aus dem Bedürfnis vieler Blogger entstand, den Protesten gegen Asylbewerber nicht tatenlos zuzusehen. Auf betterplace.org gibt es eine dazugehörige Spendenaktion, über die bis zum heutigen Tag mehr als 106.000 Euro zusammengekommen sind. Für welche konkreten Hilfsprojekte das Geld verwendet wird, ist auf der Seite transparent einsehbar. Wer mehr als Geld spenden möchte, um Flüchtlingen in Deutschland zu helfen, findet einen Ansprechpartner am einfachsten im Internet (eigenen Landkreis und „Flüchtlingshilfe“ googeln), auch telefonisch lässt sich die zuständige Hilfsorganisation beim Landkreis erfragen.