Die ersten paar Tage zu Hause vergingen wie im Flug. Ankommen, Geburtstag feiern, ausspannen – nach 10 Monaten on the road ist der Heimaturlaub herrlich (und hat immer noch genug mit Wäschewaschen, Zahnarztterminen und Zukunftsplanung zu tun). Eine meiner ersten Amtshandlungen zu Hause war der Besuch bei meinem besten Freund im  60 Kilometer entfernten Hannover. Eine Reise, die ja eigentlich gar keine rechte Reise war – und bei mir trotzdem für überraschende Erkenntnisse gesorgt hat.

Erkenntnis 1: Ich bin eine Frau!

Bepackt mit Handtasche, Handgepäck und einem durchsichtigen Plastikeimerchen voller frisch gepflückter Erdbeeren betrete ich den Zug. Es ist ein warmer Sommertag, der mich an Andalusien erinnert. Eben dort habe ich mir abgewöhnt, meine Ü30-Besenreiserbeine unter langen Gewändern zu verstecken. Nach der Erkenntnis, dass auch die Spanierinnen alle kurz tragen und kein Sturm der Entrüstung losbricht, wenn ich das ebenfalls tue, habe ich mich probehalber auch in Deutschland für ein kurzes Sommerkleid entschieden. Eine Variable habe ich dabei aber völlig außer Acht gelassen: Ich bin plötzlich Alleinreisende. Nach zehn Monaten, die ich ausschließlich in meiner Rolle als Ehefrau und Mutter verbracht habe, immer in Begleitung von Mann und Kindern, bin ich auf einmal wieder ein eigenständiges Wesen. Und zwar ein weibliches! Völlig überrascht nehme ich die Blicke meiner männlichen Mitreisenden zur Kenntnis. Einem Naserümpfen wegen der Besenreiser begegne ich jedenfalls nicht. Später in der Stadtbahn wagt sogar ein ganz passabel aussehender Mann in meinem Alter einen Flirtversuch. Er beugt sich über den Gang zu mir herüber und fragt zwinkernd: „Wo kann man hier in der Gegend denn Erdbeeren pflücken gehen?“ Auf die Idee, dass es sich dabei nicht um eine rein informative Frage handelt, komme ich überhaupt nur, weil er auf das Eimerchen auf meinem Schoß deutet und sichtlich stutzt, als er dabei meinen Ehering erblickt. Nachdem er erfährt, dass sie aus unserem Garten stammen, hat er keine weiteren Fragen. Später, als ich an Stefans Seite durch Hannover laufe, bin ich übrigens wieder völlig unsichtbar, kurzes Kleid hin oder her.

Erkenntnis 2: Menschen sind freundlich und kommunikativ!

Ich wette, das sind sie überall. Bestimmt liegt es an mir, dass mir das hier zu Hause wie eine großartige Neuigkeit vorkommt. Vielleicht liegt es auch einfach an diesem Sommertag, an dem sich in Norddeutschland jeder über die seltenen Sonnenstrahlen freut, die durch alle Knopflöcher scheinen. Aber ich bin geradezu verblüfft von der gemeinschaftlichen Kommunikation, die überall stattfindet und in die ich ganz selbstverständlich mit einbezogen werde. Als ich mir an der Haltestelle Luft zufächele, nickt mir eine ältere Frau zu und sagt: „Ja ja, man weiß gar nicht, ob man sich über das Wetter freuen soll, oder ob es schon zu viel des Guten ist, nicht wahr?“ Wir führen ein kurzes, belangloses Gespräch, fürchten uns gemeinsam vor den prophezeiten 38 Grad am Wochenende und verabschieden uns mit einem lächelnden Nicken von einander, als meine Bahn einfährt. An einer Straßenecke muss ich später kurz überlegen, in welche Richtung ich weiterlaufen muss. Ein Mann im Anzug taxiert mich prüfend und fragt dann höflich: „Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“ Der Supermarkt ist voller „Entschuldigung, kann ich grade mal…“ und „Könnten Sie mir vielleicht auch eine davon rüberreichen?“ Ich habe das Gefühl, noch nie mit so vielen verschiedenen Menschen an einem Tag gesprochen zu haben. Jedenfalls nicht in den vergangenen zehn Monaten.

Erkenntnis 3: Ich bin Mitglied einer Gesellschaft!

Ich hatte während unserer Reise nie mit negativen Gefühlen uns gegenüber zu kämpfen, hatte niemals den Eindruck, irgendwo nicht erwünscht zu sein (na ja, mit Ausnahme von dieser einen Erfahrung im bosnischen Banja Luka vielleicht). Wir wurden immer freundlich, oft sogar herzlich empfangen und waren überall gern zu Gast. Aber eben auch nur das. Als Gäste haben wir uns das Leben anderswo angesehen, alles Fremde staunend beobachtet und in uns aufgenommen, darüber nachgedacht, für uns bewertet und uns manches Mal in Gedanken eine Scheibe davon abgeschnitten. Mitunter sind uns tolle, intensive Austausche mit Familien gelungen, in der nördlichen Türkei bei praktizierenden Muslimen zum Beispiel, auf Sizilien am Fuß des Ätna und bei einer ganz normalen Patchworkfamilie in einem winzigen Dorf in den französischen Pyrenäen. Wir sind durch erstaunlich urtümliche Dörfer im Landesinneren von Portugal und Bulgarien gelaufen (die sich übrigens überraschend wenig von einander unterschieden) und durch wuselige Großstädte wie Belgrad, Budapest und Barcelona, wo uns äußerlich nichts von den Bewohnern unterschied. Trotzdem war jedem von uns immer klar, dass wir Outsider sind. Es ist etwas völlig anderes, im eigenen Heimatland unterwegs zu sein. Ich bewege mich in der Stadt, laufe durch Straßen, Geschäfte und Parks und fühle mich auf eigenartige und überraschend tröstliche Weise zugehörig. Ob es allein an der Sprache liegt, dass ich mich meinen anonymen Mitmenschen hier so verbunden fühle? Oder daran, dass ich ihr Verhalten mit einiger Sicherheit vorhersehen kann, weil ich mit den Werten und Normen der deutschen Gesellschaft hinlänglich vertraut bin? Oder liegt es einfach an der Tatsache, dass ich Hannover kenne und das hier für mich ein Heimspiel ist? Ich kann es nicht sagen, und ich bin zu überrascht, in dieser Hinsicht überhaupt so ein starkes Gefühl zu entwickeln. Am meisten erstaunt mich nämlich, wie froh ich darüber bin, wieder ein echtes Mitglied einer Gesellschaft zu sein.

Erkenntnis 4: Nachhausekommen ist genauso spannend wie Reisen!

Das ist eher so das Fazit, das mein Kurztrip nach Hannover mir vor Augen geführt hat: Nicht nur die Zeit des Reisens ist überwältigend, horizonterweiternd und aufschlussreich. Auch der Prozess der Heimkehr lädt zur Selbstreflexion ein. Bestimmt wird es noch eine ganze Weile dauern, bis alle Eindrücke sich gesetzt haben und sich daraus Erkenntnisse für mein Leben zu Hause ergeben. Auf die nächsten Wochen und Monate bin ich gespannt.