Nach Bukarest, mit Familie? Na ja, dachten wir, warum denn nicht. Wenn wir schon vier Wochen durch Rumänien reisen, wollten wir uns natürlich auch die Hauptstadt nicht entgehen lassen. Auch wenn wir wissen, dass wir keine guten Großstadt-Touristen sind. In London haben wir nach einem – allerdings sehr erfolgreichen – Sightseeing-Tag das Handtuch geschmissen und haben lieber das schöne grüne Surrey erkundet. Aber normalerweise können wir Großstadt durchaus. Berlin, Hamburg, Frankfurt, Riga, Antwerpen, Budapest – wir waren dort, wir hatten Spaß, wir fanden’s toll. An Bukarest sind wir gescheitert.

Schon unsere Ankunft steht unter keinem guten Stern. Nach etwas zu viel „Palinka! Palinka!“ mit unseren neuen rumänischen Freunden im Donaudelta hat Martin im Reflex beim Zähneputzen Leitungswasser getrunken und liegt demzufolge fünf Tage lang gründlich flach. Als wir in die Hauptstadt umziehen, ist das Fieber runter und die Bauchkrämpfe haben nachgelassen. Der Schweißfilm auf seiner Stirn ist nurmehr der Fahrweise seiner Frau geschuldet, denn die 350 Kilometer mitten durch die Walachei steuere ich. Trotzdem ist der arme Kerl glücklich, als er sich endlich in unserem gemieteten Apartment auf dem Bett ausstrecken kann.

Die Wohnung ist für rumänische Verhältnisse fast schon schön: Zwei Zimmer, Küche, Bad, sowohl Klospülung als auch Gasherd funktionieren. Für drei Nächte im Erdgeschoss eines frisch renovierten Ostblock-Plattenbaus zahlen wir umgerechnet 136 Euro inklusive Endreinigung. Bis ins Zentrum braucht man eine gute halbe Stunde mit Bus und Straßenbahn, sagt unser Vermieter, ein sanfter junger Mann, der gleich eine ganze Reihe von Apartments über die gängigen Internetportale vermietet.

Bukarest hat schöne Ecken - woanders.

Bukarest hat schöne Ecken – woanders.

Am nächsten Tag machen wir die Probe aufs Exempel – zu dritt, denn Martin fühlt sich immer noch am wohlsten in der Nähe eines Badezimmers. Ich habe eine App auf mein Handy geladen, die uns die Orientierung im öffentlichen Nahverkehr erleichtern soll. So ganz übersichtlich ist die zwar nicht, aber es wird schon laufen, sagen wir uns. Wir sehen das als Abenteuer und sind guter Dinge, als wir die Bushaltestelle suchen, die sich irgendwo ziemlich genau vor unserem Apartmentblock befinden soll.

Und richtig, hier ist sie: Eine Ausbuchtung an der vierspurigen Durchgangsstraße, über der ein blaues Schild mit einem Bus drauf prangt. Ein Fahrplan hängt nirgendwo, aber wir wissen ja, dass wir in die Nummer 202 einsteigen müssen. Die kommt auch wenige Minuten später. Wir quetschen uns zu den anderen Fahrgästen und sehen uns hilflos um. Der Fahrer sitzt mit dem Rücken zu uns in einer verglasten Kabine und macht keine Anstalten, uns Tickets zu verkaufen. Dem Schild über der Tür entnehme ich mit meinen rudimentären Lateinkenntnissen, dass Schwarzfahrern mit Strafe gedroht wird, aber wie man diesen leidigen Zustand verhindern kann, erschließt sich mir nicht. Die Frau, die mit uns eingestiegen ist, hält eine Plastikkarte vor ein Lesegerät. Es piept und leuchtet grün auf. Die anderen Fahrgäste sehen mich vorwurfsvoll an. „Excuse me, can you tell me where I can get bus tickets?“ frage ich die Dame neben mir. Sie lächelt hilflos und sieht zu Boden. Die Jungs werden nervös. „Wir können doch nicht ohne Fahrkarte Bus fahren!“ flüstert Silas eindringlich. Also steigen wir an der nächsten Station wieder aus.

Auch hier ist das blaue Schild der einzige Indikator, dass wir uns an einer Bushaltestelle befinden. Links heizen die Autos vorbei, rechts zieht sich hinter einer vermüllten Böschung eine Industriebrache dahin. Gut, also beschließen wir zu laufen. Ich habe mir unseren Weg auf der Karte angesehen und weiß, dass es bis zur Straßenbahnhaltestelle immer nur geradeaus geht. Dort wird es mit Sicherheit einen Ticketverkauf geben, sage ich den Jungs. Ich will die App checken und stelle fest, dass sie abgestürzt ist und sich auch nicht wieder öffnen lässt. Das mobile Internet hat mich mal wieder im Stich gelassen. Zum Glück war ich schlau und habe mir den Linienplan als Screenshot gespeichert. Also wandern wir bis zur großen Kreuzung und halten Ausschau nach den Straßenbahnschienen.

Kommt hier eine Straßenbahn? Die Orientierung in Bukarests Nahverkehr ist zumindest in den Außenbezirken... schwierig.

Kommt hier eine Straßenbahn? Die Orientierung in Bukarests Nahverkehr ist zumindest in den Außenbezirken… schwierig.

Wir finden die Haltestelle. Aber einen Ticketautomaten finden wir nicht. Eine Bahn kommt, öffnet die Türen, schließt sie und fährt wieder ab. Wir bleiben an der Bahnsteigkante stehen, denn auch hier saß der Fahrer hinter Glas. Wo zum Teufel sollen wir die Tickets herkriegen? Ich mustere die anderen Menschen um uns herum. Alte Leute und Bettler, niemand sieht aus, als könne er mehr Englisch als die Frau im Bus. Auf der anderen Straßenseite blinken ein paar Miniläden mit knallbunter Leuchtreklame. Wir kämpfen uns durch den Verkehr (Zebrastreifen werden von rumänischen Autofahrern meist beachtet, sobald eine Mutter mit zwei Kindern die Durchfahrt versperrt). Im ersten Kiosk frage ich die Verkäuferin: „Do you speak English?“ Sie wehrt vehement ab. Im zweiten gibt man sich wenigstens Mühe. „Where can I get tickets for the metro?“ stößt aber auch auf völliges Unverständnis. „Tickets“, wiederhole ich und deute auf die Straßenbahnschienen vor der Tür. „Address?“ fragt die beleibte Frau hinter der Theke und hält mir Zettel und Stift hin. Ich schüttele den Kopf und krame in meinem Gedächtnis nach den verschütteten Latein-Vokabeln. Blöd: Die alten Römer hatten noch keinen ÖPNV. „Billeto?“ versuche ich es mit Pseudo-Italienisch. Der Gesichtsausdruck der Frau erhellt sich. Sie sagt ein Wort, das tatsächlich so ähnlich klingt. Dann winkt sie uns durch den Laden, schiebt uns zur Hintertür hinaus und schickt uns über einen matschigen Hinterhof zur nächsten Kreuzung. Wieder werfen wir uns in den Großstadtverkehr und finden schließlich eine kleine Wellblechhütte mit dem Logo der Verkehrsbetriebe. „Buna sera“, sage ich (neben „multumesc für „danke schön“ das einzige Rumänisch, das ich kann). „Do you speak English?“ Nein, tut sie nicht. Eine Weile reden wir hilflos aneinander vorbei. Ich will ein Tagesticket, kann ihr das aber nicht recht begreiflich machen. Schließlich erinnere ich mich, dass besagtes Ticket laut Internetseite 16 Lei kostet (etwa vier Euro) und halte ihr die Summe passend vor die Glasscheibe. Endlich kommt ein Geschäft zustande, und mit Händen und Füßen erklärt mir die Frau, dass die Kinder gratis mitfahren dürfen (glaube ich zumindest).

Eine Dreiviertelstunde nach Reisebeginn sitzen wir endlich in der Straßenbahn. Das heißt, wir stehen, denn die Sitze sind einreihig und die Zahl der Mitfahrer groß. Alle Fahrgäste um uns herum haben ihr Handy im Anschlag, und auch ich tippe mit zunehmender Verzweiflung auf meinem Smartphone herum. Ich habe nämlich keine Ahnung, wo wir aussteigen müssen. Das Internet bleibt verschollen, und mein Offline-Linienplan entpuppt sich als völlig unzulänglich. Einige Stationen sind eingezeichnet, andere nicht. Ein Abzählen ist nicht möglich. In der Bahn gibt es keine Anzeige, wo wir grad sind, und die Schilder an den Stationen sind so klein, dass ich ihre Namen aus dem Inneren des Wagons nicht ablesen kann. Ansagen gibt es auch nicht. Ich weiß, dass wir am Unirii-Platz raus wollen. Aber nichts vermittelt mir, wo der sein könnte.

Pause vom Nahverkehrsstress in einer grünen Oase im Bukarester Grau.

Pause vom Nahverkehrsstress in einer grünen Oase im Bukarester Grau.

Wir steigen erstmal wieder aus und suchen die Haltestelle gründlich nach irgendeinem Anzeichen von Fahrplänen ab. Vergeblich. Dafür entdecken die Jungs einen Spielplatz und dahinter einen Park mit einer Art permanentem Jahrmarkt. An diesem trüben Tag mitten im Herbst wirken die geschlossenen Buden trostlos und symptomatisch für die Stadt. Während die Jungs toben, aktiviere ich den Offline-Stadtplan von Bukarest auf meinem Handy und versuche ihn irgendwie mit dem Liniennetzplan in Einklang zu bringen.

Bei Nieselregen und geschlossenen Buden hebt ein Jahrmarkt die Stimmung irgendwie auch nicht.

Bei Nieselregen und geschlossenen Buden hebt ein Jahrmarkt die Stimmung irgendwie auch nicht.

Wir unternehmen einen weiteren Versuch. Diesmal lautet der Plan, auf Sicht zu fahren. Die Innenstadt ist ja meistens da, wo es schön wird. Wir behalten die Wohnungsblöcke und Industriegebiete vor dem Bahnfenster im Auge. Leider ist auch das in Bukarest kein guter Indikator. Es bleibt hässlich. Aber so richtig.

Es ist aussichtslos. Eine gute Viertelstunde lassen wir uns von den ein- und aussteigenden Menschenmassen durchwalken und umherschieben. Müffelnde Bettler quetschen sich an uns vorbei, um billige Plastikwäscheklammern oder Ladegeräte an den Mann zu bringen. Und draußen vor dem Fenster sieht es immer noch so verdammt hässlich aus wie in einem Endzeit-Drama. Irgendwann bin ich so genervt, dass ich die Kinder beim nächsten Stopp wahllos vor mir aus dem Zug schiebe, um die nächste Bahn retour zu nehmen und in unsere Ferienwohnung zurückzukehren.

Das Problem: An dieser Haltestelle hält der Gegenverkehr gar nicht. Wir sehen uns um, wo die Bahnen in die andere Richtung abfahren könnten. „Mega Fun“ liest Janis am Portal einer Shopping-Mall. „Ganz genau“, sage ich. „Bukarest ist mega fun, aber so richtig.“ „Der mega fun ist halt da drin, Mama, wenn wir welchen haben wollen, müssen wir da rein“, argumentiert mein Großer. „Ich hab Hunger“, sagt der Kleine. „Wo können wir picknicken?“ Es beginnt zu regnen. Mit einem Seufzer steuere ich das Einkaufszentrum an.

Zumindest an Shopping-Malls herrscht in Bukarest kein Mangel, und hier zeigt man gern, dass man auch protzen kann.

Zumindest an Shopping-Malls herrscht in Bukarest kein Mangel, und hier zeigt man gern, dass man auch protzen kann.

Es glänzt und blinkt, alles ist sauber und neu. Tische und Stühle eines Cafés stehen auf dem Nachbau einer italienischen Piazza unter Straßenlaternen in schmiedeeiserner Optik, Wasserspiele plätschern und ändern ihre Farbe im LED-Licht. Hippe Menschen tragen Tüten mit all den Labels durch die Gegend, die man auch aus jeder deutschen Fußgängerzone kennt, und die hinter den Schaufenstern mit Preisschildern versehen sind, die denen bei uns nach dem Umrechnungskurs ziemlich gleichen. So ist das also: Das hübschere Bukarest ist ein überdachter Konsumtempel ohne Fenster, nach amerikanischem Vorbild.

Wir nutzen die saubere Kundentoilette zum Händewaschen und verputzen unsere Butterbrote auf einer der kunstlederbezogenen Sitzgelegenheiten. Silas entdeckt auf einem Wegweiser das Piktogramm eines Eisläufers. „Kann man hier etwa Schlittschuhlaufen?“ fragt er ungläubig. Nach unserem Picknick gehen wir nachsehen. Tatsächlich, die Piazza war erst der Anfang der Konsum-Glitzerwelt. Unter einer riesigen Glaskuppel erstreckt sich ein künstliches Gebirge mit Wasserfällen und Riesenrutsche. Während sich rund herum Restaurants und Läden gruppieren (unter anderem ein Lego-Shop mit reichlich Spielgelegenheiten), nimmt die eine Hälfte der Freifläche ein kreischbunter Indoor-Spielplatz ein, und die andere eine schätzungsweise 25 Meter lange Eisbahn.

Auch im Inneren des Konsumtempels geht es überdimensional zu.

Auch im Inneren des Konsumtempels geht es überdimensional zu, künstliche Felsen mit Riesenrutsche inklusive.

„Können wir Schlittschuhlaufen? Bitte!!“ kommt es unvermeidlich von links und rechts. Ich denke an das Parlamentsgebäude, das ich in Bukarest unbedingt sehen wollte, an das Athenäum und den bunten Stilmix der Altstadt, den mir die Internet-Seite der Touristinformation versprochen hat (nachdem meine direkte Anfrage per E-Mail nach Programmvorschlägen für Familien geflissentlich ignoriert wurde, übrigens). Dann denke ich leise ein paar unflätige Worte und sage laut zu meinen Kindern: „Wisst ihr was? Warum eigentlich nicht. Wenn das Beste, das Bukarest uns bieten kann, eine Shopping-Mall mit Eisbahn ist, dann gehen wir eben Schlittschuhlaufen.“

Die Begeisterung beim Nachwuchs ist groß. Geschenkt kriegen wir das energieaufwändige Vergnügen auch hier nicht: Mindestmaß sind 1,5 Stunden, und die kosten mit Schlittschuhmiete und einer Plastik-Robbe zum Vor-sich-her-Schieben für blutige Anfänger und Wertsachen-Aufbewahrung 95 Lei (knapp 25 Euro). Aber es sind die besten 95 Lei, die wir in dieser Stadt investiert haben! Während im Inneren der Bahn fünfjährige Eisprinzessinnen im Glitzerdress Pirouetten drehen, torkeln wir ungeübt am Rand entlang, werden immer besser und haben schlichtweg jede Menge Spaß.

Aus der Hüfte und mit der kleinen Knipse hab ich leider nix besseres an Bildmaterial zu bieten, aber als Beweisfoto taugt es wohl. :)

Aus der Hüfte und mit der kleinen Knipse hab ich leider nix besseres an Bildmaterial zu bieten, aber als Beweisfoto taugt es wohl. :)

Einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Besserung meiner Laune liefert der vielleicht 20-jährige Rumäne hinterm Schlittschuhtresen, der hervorragend Englisch spricht und bei jeder sich bietenden Gelegenheit eifrig mit der alten Schachtel aus Deutschland flirtet (und an Gelegenheiten mangelt es nicht: Kind 1 hat sein Wasser im Rucksack vergessen und muss noch mal ans Schließfach, bitte; Kind 2 hat sich beim 34. Sturz angehauen und bedauerlicherweise die halbe Eisbahn vollgeblutet, sorry; Kind 1 meint, es braucht die Robbe nicht mehr; Kind 1 hat herausgefunden, dass es die Robbe doch noch benötigt). Während die Jungs sich schließlich schweren Herzens aus den Schlittschuhen pellen, kommen wir näher ins Gespräch, und ich klage ihm mein Leid über den Bukarester Nahverkehr. Fix schreibt er mir auf, welche U-Bahn ich von hier aus Richtung Innenstadt nehmen muss, notiert gewissenhaft jede Station mit Namen und erklärt mir auch, welchen Ausgang ich aus dem Einkaufszentrum nehmen muss, um zur U-Bahn-Station zu gelangen. „I’ll give you my number, call me if you get lost again“, sagt er und guckt mir tief in die Augen. Bevor er erneut den Stift ansetzen oder ich rot werden kann, funkt seine Chefin dazwischen. Die Zeit ist um, die Kinder müssen vom Eis gepfiffen und dieses gereinigt werden, aber pronto. Bedauernd zuckt er mit den Achseln und schwingt sich auf seinen fahrbaren Bonerbesen. Ich stecke das Zettelchen ein und mache mich vom Acker, bevor die Jungs noch anfangen, „Papa“ zu ihm zu sagen…

Wir finden den Ausgang, den der junge Mann uns beschrieben hat. Nur die U-Bahnhaltestelle finden wir nicht. Wir gehen 50 Meter nach links, lugen in eine Parkhauseinfahrt, gehen 50 Meter nach rechts, sehen uns erfolglos nach Menschen um, die uns Auskunft geben könnten. Ach, zum Teufel! Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und Bukarest und ich werden keine Freunde. Wir pfeifen auf die Altstadt, kehren zur Straßenbahnhaltestelle zurück (den Abfahrtspunkt für die Gegenseite haben wir inzwischen dingfest gemacht) und fahren zurück ins Apartment. Es ist ohnehin schon dunkel, als wir schließlich von unserer ÖPNV-Odyssee zurückkehren.

Unser Heimweg an der vierspurigen Straße entlang.

Unser Heimweg an der vierspurigen Straße entlang.

Im zweiten Ansatz haben wir dann doch noch ein bisschen was vom „richtigen Bukarest“ zu sehen gekriegt. Ob sich unsere Meinung grundlegend geändert hat, verrate ich ein andernmal.