So viel Schnee haben wir nicht erwartet, nicht in der Türkei. Es ist auch mehr als sonst, sagen uns die Einheimischen.

Sie feiern die dichten Flocken mit spontanen Picknicks im Schnee. Väter zeigen ihren Kindern, wie man Schneeengel macht. Die Angestellten unserer Apartmentanlage juchzen wie kleine Jungs, als sie das Material vom Räumen der Fußwege dazu nutzen, einen mehr als lebensgroßen Schneemann zu bauen.

Eine Woche später hat sich die Euphorie gelegt, und zumindest die Erwachsenen sind eher genervt von der kalten weißen Masse. Wir fahren weiter nach Osten, in den Landstrich, den während der Antike das Volk der Phryger bewohnt hat. Sie haben Höhlen in den weichen Tuffstein der Gegend getrieben, deren Eingänge sie kunstvoll verzierten. Viele dieser Stätten liegen weitab der heutigen Zivilisation. In dem winzigen Dorf Yazılıkaya im anatolischen Hochland befinden sich stattliche Ruinen aber gleich neben der Straße (die man in Deutschland eher als Feldweg titulieren würde). Wir nehmen einen mehrstündigen Umweg auf uns, um sie zu sehen.

Auch Yazılıkaya ist tief verschneit. Wir parken mitten auf der einzigen Kreuzung im Dorf, weil das der einzige Platz ist, der nicht von Schneewehen belegt ist. Ein junges Mädchen mit Kopftuch und mindestens drei Röcken übereinander treibt vier oder fünf Kühe durch den Schnee. Sie sieht uns neugierig an und erwidert meinen Gruß schüchtern.

Unsere Jungs haben die antike Höhlensiedlung bereits entdeckt und stapfen den Kühen hinterher in Richtung Ruinen. Als sie sie fast erreicht haben, ertönt auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Klingel. Es ist die örtliche Grundschule. Eine gute Handvoll Kinder stürmt heraus, eingemummelt in Kleidungsstücke, die der Witterung eigentlich nicht so unbedingt entsprechen. Silas bleibt stehen und beobachtet seine Artgenossen hinter der Mauer interessiert. Der Schulhof liegt ein Stück tiefer als der Weg. Ein Junge in seinem Alter sieht zu ihm herauf. Er winkt einen Mitschüler heran und ruft Silas etwas zu. Der deutsche Junge zuckt bedauernd mit den Achseln und kann die Fragen des anderen nicht beantworten. Der fühlt sich offenbar missachtet. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, nimmt er eine Handvoll Schnee und wirft sie gegen die Mauer. Silas grinst. „Nicht getroffen!“ ruft er halblaut. „Nänänänänänä!“ Dieses letzte Wort ist internationale Kindersprache. Die Augen des kleinen Türken blitzen, und sofort will er unter Beweis stellen, dass er sehr wohl auch treffen kann. Ein weiterer Schneeball klatscht gegen die Mauer, höher diesmal. Der nächste fliegt schon drüber und landet neben Silas im Schnee. „Schneeballschlacht!“ brüllt Janis und stürmt an die Seite seines Bruders. Keine Minute später liefern wir uns hingebungsvoll eine ebensolche. Der Schnee fliegt zwischen Schulhof und Feldweg hin und her. Alle machen mit, Jungen wie Mädchen, alle lachen. Auch lachen ist international. Dass wir die Worte der anderen Seite nicht verstehen, ist von jetzt auf gleich völlig nebensächlich.

Wenn ich an Yazılıkaya denke, sehe ich voll Ehrfurcht die beeindruckenden Ruinen der antiken Hochkultur vor mir, die wir uns nach dem Klingeln der Schulglocke in aller Ausführlichkeit angesehen haben. Aber, ganz ehrlich, die deutsch-türkische Schneeballschlacht war der Augenblick, der den Ausflug in das winzige Dorf zu etwas ganz besonders Wertvollem gemacht hat.

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