Die Kinder sind krank. Und ich fahre alleine nach Tartu, um mir die Stadt anzusehen.

Der Virus scheint überstanden. Silas ging es gestern schon gut, Janis hatte einen Tag länger hohes Fieber. Glücklicherweise durften wir noch eine zusätzliche Nacht bleiben. Unseren Besuch bei der Familie in Rapla haben wir dafür abgesagt, und wir werden einen Tag früher nach Saaremaa fahren. Schade, aber in dem Fall besser so.

Pretty Tartu, Estonias second largest city of 100,000 inhabitants.

Estlands zweitgrößte Stadt.

Am Dienstag hat sich Martin alleine Tartu angesehen, während er auf seinen Termin in der Werkstatt wartete (wie sich herausstellte, konnten sie ihm da auch nicht helfen).

Am Mittwoch haben wir getauscht: Er hat den Kinderdienst übernommen, und ich bin alleine in die zweitgrößte Stadt Estlands gefahren. Silas ging es ganz gut, Janis lag noch mit Fieber darnieder, aber durch Silas’ Besserung war abzusehen, dass auch er auf dem aufsteigenden Ast sein musste. Trotzdem überkam mich ein Rabenmuttergefühl, als ich mich ins Auto setzte und einfach wegfuhr von meinen kranken Kindern. Aber was nutzt es, zu zweit tatenlos herumzusitzen, genesende Hände zu halten und dabei ein kulturelles Highlight des Urlaubs zu verpassen? Noch dazu waren unsere Gastgeber selbst unterwegs und bis zum Abend in ihrer Baptisten-Gemeinde beschäftigt.

The Leaning Building of Tartu. Not quite as famous as the Tower in Pisa, but remarkable enough.

Das schiefe Haus von Tartu.

Ich fuhr also über die Schotterpiste, die sich irgendwann in eine Landstraße und schließlich in Stadtverkehr verwandelte. Tartu hat immerhin über 100.000 Einwohner. Dank meines Reiseführers fand ich den Weg vom Parkhaus in die Altstadt. Als ich dort ankam, war der estnische Sommer vorbei und der Himmel entließ einen Starkregenschauer auf Marktplatz und mich.

Ich suchte Zuflucht im nächstbesten Geschäft, das sich als Souvenirshop entpuppte. Wo ich schon mal hier war, beruhigte ich mein Rabenmutter-Gewissen, indem ich den Jungs Estland-T-Shirts kaufte.

Als der Regen etwas nachließ, schlüpfte ich ein paar Türen weiter und landete in einem Antiquariat. Es ist durchaus ein bisschen dumm, mit seligem Grinsen durch ein kleines Souterrainlädchen zu tapsen, in dem sich bis unter die Decke Bücher in einer Sprache stapeln, die man nicht einmal ansatzweise versteht. Aber irgendwie kann ich nicht an gegen meine bibliophile Natur, und bestimmt eine halbe Stunde lang hatte ich einen Heidenspaß, immer wieder andere alte Schinken zur Hand zu nehmen. Ich weiß jetzt, dass der estnische Michel aus Lönneberga Rasmus heißt, und Madita Malinka. Besonders angetan hatten es mir die landwirtschaftlichen Kalender aus den 30er und 40er Jahren. Ich hab immer halb erwartet, auch deutsche Literatur aus dieser Zeit zu finden – immerhin war Estland von 1941 bis 1943 von Deutschland besetzt, und davor spielten Sprache und Kultur der Baltendeutschen durchaus eine größere Rolle. In diesem Laden zumindest war aber alles estnisch (die einzigen Ausnahmen, die ich entdeckte, waren russisch).

The church of St. John's is famous for its terracotta figure heads. Each one looks different.

Die Johanniskirche ist berühmt für ihre Terracotta-Figuren.

Als es nur noch nieselte, sah ich mir die Johanniskirche von außen an, die für ihre Terrakotta-Ziegel mit Figurengestalten bekannt ist. Kurzentschlossen besuchte ich dann das „Museum des Bürgertums im 19. Jahrhundert“: ein kleines Häuschen, entsprechend eingerichtet, mit Geranien vor den Fenstern, wie ich es liebe. Da ich gerade die letzten Seiten „Stolz und Vorurteil“ durchgelesen hatte und mich mit Jane Austen sehr verbunden fühlte, war diese Wahl nur natürlich.

In the "Citizen's Home Museum" you can see how people lived in Tartu in the 19th century.

Im Museum.

Schließlich trat ich in den kleinen Kräutergarten hinaus und stellte verwundert fest, dass die Sonne zurückgekommen war. So schlug ich einen Bogen durch die Altstadt, warf einen Blick auf die Uni, schenkte mir ob der fortgeschrittenen Stunde den Domberg, der sicher einen ausgiebigen Spaziergang wert gewesen wäre, und sah die berühmte Engelsbrücke nur von weitem.

Tartus Wahrzeichen, den Brunnen mit den küssenden Studenten, betrachtete ich aber noch eingehend.

The Kissing Students are the town's landmark.

Die küssenden Studenten.

Dann schleppte ich meine abgelatschten Füße in ein Café am Marktplatz und gönnte mir einen Cappuccino. Estlands Ruf entsprechend war es absolut problemlos, dort per Handy meine E-Mails abzurufen. So konnte ich beruhigt Martins Zwischenbericht zur Kenntnis nehmen, dass es auch Janis inzwischen besser ging.

Free mobile internet in most every café - typically Estonian.

Freies WLAN im Café – war damals ein Novum.

Meinen Bummel setzte ich dann Richtung Parkhaus fort, wo es nicht mehr so übermäßig hübsch war. Die Shopping-Mall überm Parkhaus beehrte ich noch kurz und kaufte in einer Buchhandlung „My Estonia“, das Buch eines der Liebe wegen hier hängengebliebenen Amerikaners, das Reet uns am Abend zuvor empfohlen hatte.

Abends haben wir mit den beiden noch lange zusammen gesessen, bis zwei Uhr oder so. Es ist schon schön, sich mal intensiv interkulturell austauschen zu können. An so einem Abend mit echten Locals lernt man mehr als auf jeder Studienreise (behaupte ich zumindest mal, denn eine qualifizierte Studienreise habe ich zugegebenerweise noch nicht gemacht).

Diesen Eintrag meines Reisetagebuchs habe ich am 2. August 2012 verfasst.

Weiterlesen? –> Pärnu: Estlands Sommerhauptstadt.