Was, wenn zu Hause etwas passiert, und man ist nicht da? Was, wenn ein lieber Mensch stirbt, während man hedonistisch durch die Weltgeschichte tingelt? Bei uns ist dieser Fall eingetreten. Und so sind wir damit umgegangen…

Wir wussten, dass es passieren würde. Als Tante Magret ihre niederschmetternde Diagnose erhielt, waren wir noch in der Planungsphase. Wir dachten: Vielleicht schafft sie es ja. Wer, wenn nicht sie, die immer so vor Leben sprühte. Sie war die rüstigste 74-Jährige, die ich kannte. Wir waren nicht blutsverwandt, aber die Jungs und ich kannten sie schon unser ganzes Leben lang, und im Herzen war sie uns genauso nah wie jede „ordnungsgemäße“ Oma. Wir dachten daran, unsere ganze Reise zu verschieben. Aber das hätte unsere gesamte langfristige Planung durcheinander gebracht. Es galt jetzt oder nie.

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Als wir weit entfernt von der Heimat die traurige Nachricht erhalten, scheint auch der Balaton Trauer zu tragen.

Dann zeigte uns das Land der begrenzten Möglichkeiten seine haarsträubende Visumspolitik, und aus der geplanten USA-Reise wurde unser Europa-Trip. Gleichzeitig wurde immer deutlicher, dass Tante Magret den Kampf gegen die tückische Krankheit verlieren würde. Wir dachten daran, wenigstens unsre Abreise zu verschieben. Aber es stirbt sich nicht auf Knopfdruck. Die ärztlichen Prognosen variierten. Martin hatte gekündigt, die Schulbefreiung galt, und ebenso unerbittlich wie Tante Magrets Lebenszeit lief auch die Zeit ab, unseren so lange gehegten Traum zu erfüllen.

Wenn wir in Europa bleiben, dachte ich, dann können wir wenigstens zur Beerdigung zurückkommen. An einem traurigen, traurigen Nachmittag verabschiedeten wir uns. Wir würden Postkarten schicken, versprachen wir mit Tränen in den Augen, reisten wir doch in die Gegenden, die auch bei ihr Erinnerungen an manchen lange vergangenen Urlaub weckten. Ihr Händedruck war noch ganz fest, und sie rang sich ein „Macht es gut!“ ab.

Einziger Trauergast außer uns...

Einziger Trauergast außer uns…

Wir schickten Ansichtskarten aus Österreich, vom Bleder See in Slowenien und von der kroatischen Adria. Meine Eltern hielten uns per E-Mail über ihren aktuellen Gesundheitszustand auf dem Laufenden. Am ungarischen Balaton schließlich erreichte uns die traurige Nachricht, dass es soweit war.

Wir waren vorbereitet. Ich hatte eine Grabkerze besorgt, die es im katholischen Ungarn zu dieser Jahreszeit in jedem Supermarkt zu kaufen gibt. In unserer Ferienwohnung gab es ein Schränkchen, das wir in einen Gedenkschrein verwandelten. Wir zündeten die Kerze an, setzten uns am Tisch zusammen und sprachen über den Tod. Dann schoben wir alle Pläne für den Tag beiseite und gingen in den Wald, um wilde Blumen zu pflücken. Die Mücken fraßen uns auf, aber das war uns egal. „Für Tante Magret lasse ich mich gerne von Mücken stechen, das ist es mir Wert“, sagte Janis.

Eine Kerze und Blumen - später kamen noch die Bilder der Jungs dazu.

Eine Kerze und Blumen – später kamen noch die Bilder der Jungs dazu.

Unsere Sträuße drapierten wir auf dem Schränkchen. Die Jungs malten Bilder von ihren schönsten Erinnerungen an die Tote. Wir schrieben Briefe an Onkel Willi, ihren Mann. Fünf Tage lang brannte die Kerze, wann immer wir zu Hause waren.

Wir hatten längst beschlossen, nicht nach Hause zu fahren. Martin rechnete mir vor, was es kosten würde. Und was hätte es gebracht? Onkel Willi hatte deutlich gemacht, dass er das keineswegs von uns erwartete. Als Religionswissenschaftlerin habe ich einen funktionalen Blick auf solche Dinge. Beerdigungen sind Rituale, die dem Einzelnen organisierte Gelegenheit zur Trauer bieten und darüber hinaus gesellschaftliche Funktionen erfüllen. Wir hatten nicht das Bedürfnis, einer Verwandtschaft, mit der wir nichts zu tun haben, unsere Verbundenheit mit der Toten zu beweisen. Und trauern, Abschied nehmen, loslassen, das konnten wir auch hier.

Am sechsten Tag, dem Morgen unserer Weiterreise nach Budapest, bereiteten wir unsere eigene alternative Trauerfeier vor. Martin und Silas bauten ein kleines Boot aus einer Obstschachtel, einem Korken und Zahnstochern, das sie mit wachsgetränktem Papier beluden. Wir setzten ein Teelicht hinein, pimpten es mit Zahnstochern, damit es schneller abbrennen würde. Ich bedeckte das Papier mit den Blüten unserer Blumensträuße. Janis malte ein Portrait von Tante Magret, das wir zwischen Kerze und Blumen befestigten.

Mit Blumen und einem Bild geschmückt, sieht man der Barke ihren profanen Ursprung gar nicht mehr an.

Mit Blumen und einem Bild geschmückt, sieht man der Barke ihren profanen Ursprung gar nicht mehr an.

Dank GoogleMaps fand Martin eine stille Bucht des Balaton außerhalb der Ortschaften. Ein Feldweg führte uns ans Ufer. Wir gingen langsam und schwiegen. Eine Ansage im Auto hatte gereicht, um den Jungs die Ernsthaftigkeit unseres Vorhabens zu vermitteln.

Im diesigen Morgenlicht dümpelten Ruderboote in der schilfgesäumten Bucht. Zwei Schwäne glitten neugierig auf uns zu, hielten aber einen pietätvollen Abstand ein. Wir traten ans Ufer. Martin entzündete die Barke. Wir hatten unsere Zweifel gehabt, ob sie vernünftig brennen würde, aber als Werk eines Diplomingenieurs tat sie uns ergeben den Gefallen. Während das brennende Boot über das trübe Wasser glitt, stimmten Janis und ich (die besseren Sänger der Familie) das Lied vom Sperber an. Eigentlich ist es ein Lied übers Lieben, Loslassen und Zurückkommen. Aber es passte zu Tante Magret, und die klagenden Töne vermittelten eine angemessene Stimmung.

Die stille, schilfgesäumte Bucht des Balaton ist ein guter Ort, um Abschied zu nehmen.

Die stille, schilfgesäumte Bucht des Balaton ist ein guter Ort, um Abschied zu nehmen.

 

Ritt voll stolzem Mut
Durch das weite Land
Einen Sperber gut
Auf behandschuhter Hand
Und ich seh’ dein Gefieder
So weiß wie der Schnee
Und das Auge so klar
Wie der ruhige See
Und ich seh’ dein Gefieder
So weiß wie der Schnee
Und das Auge so klar
Wie der ruhige See

 
Flieg, mein Sperber, fort
Lös dir Kappe und Band
Saßt so ruhig dort
Auf behandschuhter Hand
Und nun steigst du empor
In die wolkigen Höh’n
Bis mein Blick dich verlor
Kann dich nimmer erspäh’n
Und nun steigst du empor
In die wolkigen Höhn
Bis mein Blick dich verlor
Kann dich nimmer erspäh’n

 
Denk ich einst zurück
An das weite Land
Denk ich auch voll Glück
Der behandschuhten Hand
Und ich seh’ dein Gefieder
So weiß wie der Schnee
Und das Auge so klar
Wie der ruhige See
Und ich seh’ dein Gefieder
So weiß wie der Schnee
Und das Auge so klar
Wie der ruhige See

 

Beladen mit unseren Erinnerungen geht das brennende Boot auf eine symbolische letzte Reise.

Beladen mit unseren Erinnerungen geht das brennende Boot auf eine symbolische letzte Reise.

Nach der zweiten Strophe schlugen die Flammen über Tante Magrets Bild zusammen, und Janis begann zu schluchzen. Mit brüchiger Stimme sang ich noch die dritte Strophe (die ich mit wenigen Worten passend modifiziert hatte). Silas schmiegte sich an mich, und an seinem zuckenden Rücken merkte ich, dass auch er weinte. Das erleichterte mich, denn in all den Monaten, in denen wir von dem bevorstehenden Verlust wussten, hatten beide Jungs immer die Fassung bewahrt. Ich glaube, dass es richtig und wichtig ist, um einen geliebten Menschen zu weinen.

Das taten wir alle ein paar Minuten lang, während das kleine Schiff lichterloh brennend über die Wellen trieb. Es verfing sich im Schilf, und eine Zeitlang hatten wir Bedenken, dass wir die Zeremonie mit einem unwürdigen Löscheinsatz würden beenden müssen. Schließlich aber erlosch das Feuer, und das Wrack versank lanksam im Plattensee. Schweigend gingen wir zum Auto zurück.

Auf der Fahrt nach Budapest sprachen wir über Tante Magret, und ich erklärte den Jungs, was in den vergangenen Tagen mit ihrem Körper passiert war und wie Beerdigungen normalerweise ablaufen. Ich erzählte ihnen auch vom Beerdigungskaffeetrinken, und dass die Trauergäste bei dieser Gelegenheit langsam wieder vom Trauern zum Leben kommen. So teilten auch wir die schönen und lustigen Erinnerungen an Tante Magret, nicht bei Schaumburger Zuckerkuchen, sondern im Auto, aber trotzdem war es nett.

Doch, wir hatten eine schöne Zeremonie. Und ich glaube, Tante Magret hätte das auch gefallen.