Ein Haus voller Spielzeug, buchstäblich vom Keller bis unters Dach gerammelt voll mit Puppen, Autos, Stofftieren, Schaukelpferden, Dampfmaschinen – diesen Traum aller Kinder haben sich Sigrid und Siegfried Israel erfüllt. Ihr Wohnhaus in Hüllhorst-Schnathorst haben sie in das „Spielzeugmuseum im Mühlenkreis“ verwandelt. Ihre Tochter Sonja Voss (die wie ich für das Mindener Museum arbeitet) hat mich und die Jungs zu einer Exklusiv-Führung durch „das Haus mit Wunderkisten-Charme“ eingeladen.

Sonja begrüßt uns und führt uns in den Flur des Hauses. Früher war hier unten eine Schuhmacherwerkstatt, erklärt sie. Die Jungs kleben nach einem kurzen „hallo“ bereits an den ersten Vitrinenfenstern. Sie haben Figuren aus dem Erzgebirge entdeckt, die in verschiedenen Stadien des Produktionsvorgangs stecken. Wie aus den rudimentär gedrechselten Holzreifen filigran geschnitzte Schäfchen werden, fasziniert die Kinder. Es kostet Sonja und mich einiges an Mühe, die beiden vom Hausflur in das Puppenzimmer zu lotsen, das noch so viel mehr zu bieten hat.

Dicht an dicht drängen sich im Spielzeugmuseum im Mühlenkreis mehr als 500 Puppen aus zwei Jahrhunderten.

Dicht an dicht drängen sich im Spielzeugmuseum im Mühlenkreis mehr als 500 Puppen aus zwei Jahrhunderten.

Hier erwarten uns Vitrinen bis zur Decke, dicht besetzt mit Puppen jeder erdenklichen Herkunft und Form. „Welche ist die älteste?“ will Janis wissen. Sonja zeigt uns eine recht unscheinbare Dame aus dem Jahr 1820. „Die ist fast 200 Jahre alt“, sagt sie, und die Jungs staunen. Entlang der Glasscheiben können wir beobachten, wie sich Formen, Materialien, Idealvorstellungen im Laufe der Jahrzehnte verändert haben. Ich entdecke die Sorte Schildkröt-Puppen, mit der meine Mutter gespielt hat. Bis etwa 1970 reicht die Sammlung der Israels.

Sonja holt einen Korb mit „Puppenbruch“ hervor, anhand dessen wir drei die Herstellungsweisen früherer Zeiten nachvollziehen können. „Was meint ihr denn, was für Material das ist?“ fragt sie die Jungs. Die zweifeln. Plastik? Gab es früher noch nicht, oder? Holz? Zu leicht. Pappmaché, mit Wachs überzogen, klärt uns Sonja auf. Auch Porzellangesichter wurden früher gerne dünn mit Wachs beschichtet, um einen realistischen Glanz zu erzeugen. Und in Japan wurden zeitweise Puppen aus Muschelkalk hergestellt. Außerdem lernen wir, dass die klassische Baby-Puppe und damit auch das Spiel als Puppenmutter erst seit etwa 1920 existieren. „Vorher gab es nur die Modepuppen, die mehr als Vorbild für die Mädchen dienen sollten“, erklärt uns Sonja.

So sehen alte Puppen von innen aus? Sonja Voss weiht die Jungs in die Geheimnisse der Spielzeugherstellung ein. (Sonja shows Janis how old dolls look on the inside.)

So sehen alte Puppen von innen aus? Sonja Voss weiht die Jungs in die Geheimnisse der Spielzeugherstellung ein. (Sonja shows Janis how old dolls look on the inside.)

Das wahrhaft Spektakuläre ist in meinen Augen weder die schiere Menge noch das stattliche Alter einzelner Ausstellungsstücke – es sind die Geschichten, die manche Puppe hier erzählen kann. Die meisten Stücke haben die Israels auf dem Flohmarkt ergattert, aber einige sind ihnen als Erinnerungsstück vermacht worden. Sonja zeigt mir ein Puppenmädchen, das sich auf den ersten Blick kaum von ihren Nachbarinnen unterscheidet. Es trägt einen gehäkelten Mantel und eine dicke Mütze auf dem Kopf. „Die ist das einzige, was einem kleinen Mädchen aus einem Kinderzimmer voller Spielzeug geblieben ist“, erzählt Sonja. Eine alte Dame habe die Puppe dem Museum gespendet, damit ihre Geschichte bewahrt wird. Ihre Familie musste nach dem Zweiten Weltkrieg aus Ostpreußen fliehen. Um dem Kind die beschwerliche Reise als Abenteuer zu verkaufen, wurde auch die Lieblingspuppe fluchtfertig gemacht: Die Mutter häkelte schnell noch einen Reisemantel, dann legte die Puppe all ihre Kleidung übereinander an, genau wie der Rest der Familie. „Sie trägt sogar doppelte Unterwäsche“, verrät Sonja.

Eine andere spannende Geschichte erzählt die Puppenküche in der Vitrine gegenüber. Die hat ein Vater in Kriegsgefangenschaft gebastelt, heimlich nach der Arbeit aus Materialresten. Zusammengeklappt wirkt das Kleinod wie ein unscheinbares Stück Schrott, doch hinter der Fassade versteckte der Mann mit unendlich viel Liebe und Detailfülle gearbeitete Miniatur-Pfannen und Töpfe.

„Wollt ihr mal sehen, was es hier noch gibt?“ fragt Sonja. Diese Frage wird uns an diesem Nachmittag noch einige Male verblüffen, denn in diesem Museum gibt es immer noch mehr und noch mehr und dann noch mehr zu entdecken. Der nächste Raum ist dem mechanischen Spielzeug gewidmet. Aufgeregt erkennt Janis die uralten Vorgänger von Opas Spielzeug-Eisenbahn, die sogar dasselbe Markenzeichen tragen. Auch mir kommt hier einiges bekannt vor: Lego-Sets vergangener Zeiten und verschiedene Dampfmaschinen, die schon alt waren, als ich als Kind staunend davor stand. Sonja zeigt uns, wie wir zu Hause mit einfachen Mitteln so eine nachbauen können.

Der rund 40 Jahre alte Kaufmannladen zum Anfassen hat Janis am besten gefallen. (Janis "playing store" with a 40 year old hands-on exhibit.)

Der rund 40 Jahre alte Kaufmannladen zum Anfassen hat Janis am besten gefallen. (Janis „playing store“ with a 40 year old hands-on exhibit.)

Im alten Ladengeschäft der Schuhmacherwerkstatt sind Verkaufstresen und Schaufenster noch erhalten. Hier ist die beste Kulisse für Kaufmannsläden vergangener Jahrzehnte. Die ganz alten befinden sich natürlich hinter Glas, aber einige Modelle etwas neueren Datums dürfen bespielt werden. „Oh, sind das Reichsmark?“ fragt Janis, als er die Kasse öffnet und das Spielgeld entdeckt. Es sind D-Mark, aber die Beispiele aus noch früheren Zeiten stehen bereit. Wie überall hat Sonja zahlreiche Ideen parat, um die Kinder die Ausstellung entdecken zu lassen. Welche Marken aus den Miniatur-Läden finden wir heute noch im Supermarkt? Wo und was ist eine Bonbon-Maschine? Außerdem sind im ganzen Museum Märchen-Szenen versteckt. Wir gehen auf die Pirsch.

Nebenan türmen sich Stofftiere in den Vitrinen, uralte Teddybären. Die Augen der Jungs leuchten, als sie die Spielzeugkisten ohne Glasscheiben davor entdecken. „Das sind alles Sachen, die ruhig benutzt werden dürfen“, sagt Sonja und verschafft uns so massig Zeit zu erwachsenen Detail-Gesprächen.

So hätten wir den Nachmittag wohl rumgekriegt – aber es warten noch zwei weitere Etagen voller Spielzeug auf uns. Die mittlere Etage ist privat, hier wohnen Sonjas Eltern. „Früher haben sie tatsächlich im Museum gewohnt“, berichtet die Tochter. 1997 haben die beiden ihre Sammelleidenschaft für altes Spielzeug entdeckt und bald die ersten Vitrinen im Wohnzimmer aufgestellt. 2009 kam dann der Umzug in das Haus an der Dorfstraße, das mehr Ausstellungsfläche bietet. Ziemlich genau 8000 Besucher haben die Israels seitdem gezählt. Längst ist es wieder eng geworden. Unterm Dach zeigt Sonja uns nicht nur regalmeterweise Puppenstuben aus zwei Jahrhunderten, sondern auch den beeindruckenden Nachlass ihres Großvaters Alfred Daun, der in der Region für seine atemberaubenden Laubsägearbeiten bekannt war. „Allein davon hätte man schon gut und gerne ein Museum machen können“, sagt Silas später.

Der großväterliche Nachlass der Laubsägearbeiten Alfred Dauns ist im Giebel untergekommen. (Sonja's grandfather used to make these amazing fretworks.)

Der großväterliche Nachlass der Laubsägearbeiten Alfred Dauns ist im Giebel untergekommen. (Sonja’s grandfather used to make these amazing fretworks.)

Die Puppenstuben vermitteln einiges an Kulturgeschichte, denn hier lässt sich anhand von Kinderspielzeug der Wandel in der Wohnkultur verfolgen – und der Wandel in der Spielzeugnutzung selbst. Das älteste Exemplar aus der Wende zum 20. Jahrhundert ist bis in die 1970er Jahre benutzt worden. Die versilberte Babywiege und die Biedermeier-Möbel führen hier eine friedliche Koexistenz mit neueren Errungenschaften und einem modernen Farbkonzept. Deutlich ist auch zu sehen, dass es sich um geliebtes, benutztes Kinderspielzeug handelt: Stolz hat „KLAUS“ seinen Namen in krakeligen Bleistift-Lettern in der Fassade verewigt.

Die Geschichte der Wohnkultur im Kleinformat - ein Badezimmer Anfang des 20. Jahrhunderts. (A dollhouse's bathroom dating form the start of 20th century.)

Die Geschichte der Wohnkultur im Kleinformat – ein Badezimmer Anfang des 20. Jahrhunderts. (A dollhouse’s bathroom dating form the start of 20th century.)

Das letzte Abenteuer führt uns in den Keller. Gesellschaftsspiele, alte Schulbänke, Schaukelpferde, Fahrräder und eine große Auto-Sammlung erwarten uns hier. Die Jungs verbringen noch einmal eine selige halbe Stunde mit einer Parkgarage aus den 1970ern, während Sonja mir die Bedeutungen und Besonderheiten der verschiedenen Bauserien erklärt. Sie bedauert, dass in dem privat geführten Museum wenig Raum für Systematik ist. Als Historikerin kann ich sie gut verstehen. Als Museumsbesucher sind die Jungs und ich uns aber einig: Das hier ist einfach ein überwältigendes Erlebnis!

Das Spielzeugmuseum im Mühlenkreis befindet sich in der Dorfstraße 4 im Hüllhorster Ortsteil Schnathorst (bei Minden). Geöffnet ist das „Haus mit Wunderkisten-Charme“ an jedem zweiten und vierten Wochenende im Monat samstags und sonntags von 14 bis 18 Uhr. Der Besuch ist kostenlos, über Spenden freut sich die Familie Israel.

Freitags zeige ich euch spannende Ausflugsziele aus Schaumburg und der näheren (und weiteren) Umgebung. Es gibt so viel zu erkunden in aller Welt, aber auch bei uns zu Hause warten genügend kleine, große und völlig unterschätzte Sensationen darauf, entdeckt zu werden. Und vielleicht ist ja genau die richtige Idee für eure Wochenend-Planung dabei?