Der Tag beginnt mit einer schweren Aufgabe: Wir müssen die weltbeste Couchsurfing-Familie verlassen. „Bleibt doch einfach noch ein bisschen“, sagt Sharon nicht zum ersten Mal. Zu gerne würden wir ja sagen.
Wir spielen kurz mit dem Gedanken, unseren nachfolgenden Gastgebern einfach abzusagen und zwei Tage länger in Bangor zu bleiben. Aber dann wird der Weg bis zu unserem nächsten Ziel in Südengland so weit. Außerdem wollen wir von Wales noch etwas mehr sehen. Und abgemacht ist abgemacht, es wäre fies den Hosts gegenüber, die heute auf uns warten. Es ist ein älteres Paar, Toria und Brian, das wohl recht zurückgezogen mitten in der walisischen Landschaft wohnt. Das wird bestimmt spannend, denken wir uns (und oh, wie Recht wir damit haben sollten…). Die Kommunikation hat sich als etwas schwierig erwiesen, da Toria und ich aus unterschiedlichen Gründen kurz vor der Abfahrt ohne Internet gewesen sind. Erst dank Sharons WLan ist es uns gelungen, die endgültige Zusage und die Adresse zu erhalten. Im Zuge dieses Wirrwarrs ist uns aufgefallen, dass wir eine Nacht zu wenig gebucht haben – unser Gastgeber in der Nähe von Bath erwartet uns am 29., aber mit Toria haben wir nur zwei Übernachtungen ausgemacht. Einzelne Übernachtungen sind immer blöd, weil beim Ein- und Auspacken so viel Zeit verloren geht. Martin drängt mich, Toria zu schreiben, um das zu klären. Aber das letzte Mal hat es eine Woche gedauert, bis wir eine Antwort bekamen, und eine Telefonnummer haben wir nicht. Wir beschließen also, die Sache auf uns zukommen zu lassen, und verabschieden uns schweren Herzens von Sharon, Vikram, Ella und Jake.
Wales ist nicht groß. Die Fläche von gut 20.000 km² entspricht ziemlich genau der von Sachsen-Anhalt. Inwiefern sich die Straßenzustände gleichen, kann ich nicht sagen, da ich von Sachsen-Anhalt in letzter Zeit nicht mehr gesehen habe als die Autobahnen. Die gibt es aber in Wales schon mal gleich gar nicht. Die Landstraßen führen durch jedes Kuhkaff, und in reichlich Kurven über manchen Hügel. Etwa 200 Kilometer beträgt unsere Tagesstrecke. Trotzdem sitzen wir gut vier Stunden im Auto.
Wir gondeln durch die Ausläufer des Snowdonia Nationalparks. Nach einer Dreiviertelstunde machen wir am Strand von Dinas Dinlle eine Pause. „Da fahren wir immer hin, wenn wir mal richtigen Strand wollen“, hat uns Sharon verraten. So ganz können wir, die wir vom Ostseestrand verwöhnt sind, diese Euphorie nicht teilen, denn zumindest dieser obere Teil der walisischen Westküste hat mehr Steine als Sand zu bieten.
Aber wir sind ja nicht hier, um es wie zu Hause zu haben, und Badeurlaub wollen wir schon gleich gar nicht machen. Stattdessen klettern wir einen Hügel hinauf.
Der beherbergte, wie ein Schild uns informiert, vor 2500 Jahren ein Fort. Ein guter Teil davon ist inzwischen mitsamt der Steilküste im Meer versunken, und auch den Rest erkennt der unkundige Tourist nicht ohne Hilfe. Die beschränkt sich vor Ort auf besagte Infotafel, und so nehmen wir zur Kenntnis, dass Lleu Llaw Gyffes hier gewohnt haben soll, wissen aber nicht recht, was wir davon halten sollen.
Erst zu Hause erfahren wir, dass wir über die Heimstatt eines eher zweifelhaften Gesellen spaziert sind. Lleu Llaw Gyffes spielt eine Rolle in der walisischen Mythologie. Schon seine Geburt verlief recht merkwürdig, da er quasi als Beigabe seines Zwillingsbruders als „Stein“ oder „Ei“ herausflutschte. Da seine Mutter unverheiratet und sein Vater, wie sich später zeigte, wohl der Bruder seiner Mutter war, setzte dieser das Kind im Meer aus und versteckte das zweite Ding unterm Bett. Ähnlich wie bei Janis, der dort manchmal seine Butterbrotdosen hortet, erwies sich das als Idee mit ungeahnten Ausmaßen. Eines Tages kroch ein kleiner Jungs unterm Bett hervor. Die Mutter weigerte sich, ihm einen Namen zu geben, tat es aufgrund einer List des Onkels/Vaters aber schließlich doch: Lleu Llaw Gyffes bedeutet „Lleu mit der geschickten Hand“ (aus den Diskussionsbeiträgen über die Bedeutung des ersten Namensteils bin ich irgendwann ausgestiegen, da kann ich mit den keltischen Ethymologen nicht mithalten, die sich noch dazu sehr uneinig sind). Selbstverständlich vollbrachte er die eine oder andere Heldentat, allerdings lieber mit List und Magie als mit dem Schwert. Er heiratete eine Handvoll Blumen, die in Gestalt der allerschönsten Frau zum Leben erwachten. Ideal war die Dame aber nicht, denn sie wurde ihm bald untreu. Lleu bezwang seinen Nebenbuhler und wurde Herrscher des walisischen Königreichs Gwynedd, in dessen Grenzen wir uns heute befinden. Das ist jetzt meine subjektive Kurzversion, die sich selbstverständlich abendfüllend erzählen ließe und dann eine gute Wagenladung Magier, verwandelte Tiere, echte und falsche Jungfrauen und echte und falsche Könige enthielte.
Wir jedenfalls genießen den mittelmäßig königlichen Ausblick und gönnen den Jungs eine Spielpause am Strand.
Innerhalb von wenigen Minuten zieht dann allerdings am strahlend blauen Himmel Seenebel auf und verwandelt die Urlaubsidylle in einen beunruhigend mystischen Ort. „Wenn man das so sieht, ist man schon geneigt, an Geister zu glauben“, sage ich zu Martin – ohne zu dem Zeitpunkt etwas über den magisch umtriebigen Hausherren zu wissen, durch dessen altes Wohnzimmer wir stapfen. Nicht nur gruselig, sondern auch ungemütlich kommt uns die Gegend nun vor. So überlassen wir Lleu Llaw Gyffes also wieder sein Territorium und machen uns vom Acker.
Dinas Dinlle ist ein winziger Touristenort an der Nordwestküste von Wales. Das eisenzeitliche Hillfort ist frei zugänglich und vom (kostenlosen!) Strandparkplatz aus ausgeschildert. Kostenlose Toiletten, ein (kleiner) Spielplatz, Imbissbuden und ein Laden für Strandbedarf befinden sich ebenfalls vor Ort.
Dieser Beitrag basiert auf Eintragungen meines Reise-Tagebuchs vom 27. August 2013.
Hinterlasse einen Kommentar