Ein toller Zwischenstopp für Familien auf dem Weg in die schottischen Highlands ist New Lanark. Das Freilichtmuseum zeigt eine alte Arbeitersiedlung, die sich um eine frühindustrielle Baumwollspinnerei gruppiert. Gleichzeitig ist es eine Utopie, eine Art soziologischer Feldversuch zur Verbesserung der Welt. Hier hat Robert Owen gewirkt. Obwohl wir nie zuvor von diesem Mann gehört haben, beeindruckt er uns Eltern und die Kinder gleichermaßen nachhaltig.

Hinweis aus dem Jahr 2025

Dieser Erfahrungsbericht stammt aus meinem Reisetagebuch von 2013. Da wir es leider seitdem nie wieder nach New Lanark geschafft haben, ist er leider inzwischen ziemlich veraltet. Für viele andere Reise- und Ausflugsziele in Schottland habe ich aktuellere Erfahrungswerte bis ins Jahr 2022. Schaut deshalb unbedingt mal in meinen Überblicksartikel →Schottland mit Kindern! Dort gibt es auch eine Kartenansicht, wo alle Beiträge lokal verlinkt sind.

More than 2,000 people lived in New Lanark at the peak of cotton production.

Mehr als 2000 Menschen lebten hier zu Hochzeiten der Baumwollproduktion am idyllischen Fluss Clyde.

Die Preise und andere „harte Fakten“ habe ich im Folgenden aktualisiert. Unsere persönlichen Erfahrungen habe ich im Original belassen.

New Lanark Freilichtmuseum für Familien

ABSOLUT empfehlenswert ist ein Besuch im Freilichtmuseum, dessen Eingang sich nur wenige Meter weiter befindet. Mit 24,50 Pfund gilt das Familienticket für britische Verhältnisse als Schnäppchen. [2025: Familienticket (2+2) 38 Pfund, verschiedene Varianten; Einzeltickt Erwachsene 15 Pfund.] Und die sind gut angelegt. Aber von vorne.

Wir haben heute Gesellschaft von Linn-Marit, ihrem Mann Tony und ihrer Tochter Catriona. Keine Couchsurfer diesmal, sondern eine Brieffreundin aus Jugendzeiten. Da wir uns noch nie getroffen haben und uns (abgesehen von Weihnachtskarten und gelegentlichen Kurzmitteilungen über facebook) schon lange nicht mehr schreiben, ist der Unterschied marginal.

Janis und Catriona sind fast gleich alt. Nachdem die junge Schottin die Überraschung überwunden hat, dass unsere Jungs kaum Englisch sprechen, kommen die drei bestens zurecht. Linn-Marit und ich quatschen über alte Zeiten, frischen unser Wissen über einander auf. (Nein, ich bin kein D.J.Bobo-Fan mehr. Ja, ich verdiene mein Geld tatsächlich mit dem Schreiben, wie ich das immer vorgehabt habe, wenn wir über die Höhe dieses Einkommens auch lieber den Mantel des Schweigens decken. Und nein, zur Antarktis-Forscherin hat es leider doch nie gereicht.)

The spinning machine in the cotton mill. Industrialisation at its best.

Industrialisierung pur: Hier wird gesponnen.

Catriona zieht uns unterdessen zur „Annie McLeod Experience“. Sie ist schon zwei Mal hier gewesen, mit ihren Eltern und mit der Schule. Die Fahrt mit der Gondel durch ein Feuerwerk multimedialer Darstellungsformen ist das Beste, sagt die Neunjährige.

Na ja, sie formuliert das natürlich anders. Aber als wir in einem der alten Fabrikgebäude in eine Art Sessellift klettern, der uns zu zweit durch die abgedunkelten Räume schweben lässt, verstehen wir schnell, was sie meint.

(Nach demselben Prinzip funktioniert übrigens auch der „Geschichtenzug“ in der →Astrid-Lindgren-Experience Junibacken in Stockholm. Das haben wir 2023 ausprobiert und waren begeistert.)

Die „Annie McLeod Experience“

Janis sitzt neben mir und schaut gebannt in die Welten, die sich uns eröffnen. Aus dem Lautsprecher tönt die Stimme eines kleinen Mädchens – auf Deutsch, da wir dem Mitarbeiter am Eingang unsere Muttersprache genannt haben.

Das Mädchen stellt sich vor als Annie McLeod, gerade zehn Jahre alt. Gemeinsam mit ihrer Familie lebt und arbeitet sie im New Lanark der 1820er Jahre. Bis vor kurzem ist sie in die Schule gegangen, die Fabrikbesitzer Robert Owen den Arbeiterkindern eingerichtet hat.

Wir biegen um die Ecke und sehen Kinder in merkwürdigen Schuluniformen als Lichtgestalten über die Backsteinwände tanzen. Annie berichtet uns vom Schulalltag, der mich fast ein bisschen an das Waldorf-Konzept erinnert und damals wahnsinnig innovativ gewesen sein muss. Und davon, dass der Manager aus Gründen, die seine Arbeiter nicht recht nachvollziehen können, Kindern unter zehn Jahren nicht erlaubt, in der Spinnerei zu arbeiten.

Seit kurzem aber ist Annie endlich alt genug, um Geld für die Familie zu verdienen. Wir sehen sie, wie sie geisterhaft über eine unsichtbare Leinwand unter einer sehr soliden, sehr wirklichen Spinnmaschine des frühindustriellen Zeitalters umher krabbelt. Die jungen Mädchen wurden gern als „Anknüpferinnen“ eingesetzt, erzählt Annie: Wenn der Faden riss, fisselten sie ihn wieder zusammen und fegten dabei gleichzeitig die Flusen unter der Maschine auf. „Aber wir müssen schnell sein, denn die Motoren halten für niemanden an.“

The spirit of Annie McLeod doing her work (it was a ride in the dark, sorry I coundn't do any better).

Annies Geist erledigt ihre Arbeit (was fotografisch festzuhalten alles andere als einfach ist, wenn man mit einer Skilift-Gondel im Dunkeln durch die Gegend fährt).

Immer wieder kam es in solchen Fabriken zu schrecklichen Unfällen. Auch Owen konnte das nicht ganz verhindern. Aber er kam auf die nie dagewesene Idee, einen kleinen Teil des Arbeitslohns einzubehalten und davon im Krankheitsfall die Behandlungskosten und bei Arbeitsunfähigkeit eine Rente zu zahlen. Überhaupt sorgte er dafür, dass in der kleinen, zu Blütezeiten 2100 Seelen fassenden Arbeitersiedlung ein Arzt ansässig wurde. Die Arbeiter und Arbeiterinnen erhielten Wertmarken, mit denen sie im betriebseigenen Laden verbilligte Lebensmittel kaufen konnten, und Owen kümmerte sich um eine Verbesserung der hygienischen Zustände. Außerdem schaffte er die Prügelstrafe ab und führte stattdessen ein findiges System der „Qualitätssicherung“ ein, das auf sozialer Kontrolle beruhte.

Glück gehabt: Unsere Führung durch New Lanark

Noch sehr viel mehr als von Annie erfahren wir von einer Mitarbeiterin aus Fleisch und Blut. Wir waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort und haben am Ticket-Schalter die kostenlosen Zusatzkarten abgegriffen. So kommen wir in den Genuss einer geführten Tour das Gelände.

Unser Guide macht uns auf das riesige Wasserrad aufmerksam, das in der Spinnerei für die nötige Energie sorgte. Auf Dampfmaschinen griff man nur zurück, wenn der Wasserstand des Clyde zu niedrig war. Wasserkraft war viel billiger und in dem kleinen Tal auch entschieden einfacher zu bekommen.

Hochinteressant wird es, als wir mit der Führung eine restaurierte Arbeiterwohnung betreten. Sie ist auf dem Stand der 1820er Jahre – der Zeit, in der Owen in New Lanark wirkte. Ziemlich viele Menschen drängen sich in dem kleinen freigegebenen Bereich der Einzimmerwohnung, um der lebendig berichtenden Frau zuzuhören.

Die Kinder dürfen in dem abgetrennten Teil der Ausstellung am Küchentisch der Familie Platz nehmen. Ich bin ganz gefesselt vom Vortrag der Frau, die von den üblichen Lebensbedingungen armer Fabrikarbeiter zu Beginn des 19. Jahrhunderts erzählt. Und wie der Überflieger Owen im zarten Alter von zehn Jahren dieses Elend in den Hinterhöfen Londons sah und weinend beschloss, etwas dagegen zu tun.

Weniger geschichtsinteressierte Besucher beobachten belustigt, wie Silas’ Augen immer kleiner werden, sein Kopf in der stickigen Wärme tiefer sinkt und schließlich auf der Tischplatte aufliegt. Na ja, ich kann’s ihm nicht verdenken. Er versteht ja nichts und ist von seinen Übersetzern abgeschnitten.

Robert Owens Wohnhaus und Schule

Nach Silas’ Power-Nap besichtigen wir noch das Wohnhaus des Sozial-Pioniers, in dem er trotz leitender Tätigkeit Bescheidenheit vorlebte.

Mittagspause machen wir im hauseigenen Café, das sich preislich und auch vom Angebot her gut dafür eignet.

Weiter geht es in der Schule, wo es einiges auszuprobieren und zu entdecken gibt.

Robert Owen sent the children of the workers to school and wouldn't admit them to work until the age of ten - beyond comprehension for most people at that time.

Schulgeschichte zum Anfassen: In Robert Owens innovativer Arbeiterkinderschule haben heute auch Janis und Silas Spaß.

Die Filmvorführung: Geschichte kompakt

Bei einer Filmvorführung bekommen wir Kopfhörer für die deutsche Synchronisation.

Zu recht kitschiger Musik wird auf der Leinwand eigentlich nur noch mal zusammengefasst, was wir alles schon gehört haben. Trotzdem bin ich so ergriffen, dass ich in meiner Handtasche nach den Taschentüchern wühlen muss und mir einen schrägen Blick von den Jungs einfange.

Auf dem Weg nach draußen nimmt mich Silas mit seinen sechs Jahren an die Hand und sagt: „Du, Mama… Wenn’s geht, werde ich auch so etwas machen. Eigentlich habe ich ja den Plan, Wissenschaftler zu werden. Aber wenn es sich einrichten lässt, werde ich lieber ein Robert Owen, der vielen Menschen ihr Leben verbessert. Das ist noch wichtiger, glaube ich.“

Oje, ich hatte meine Taschentücher gerade weggepackt…

Extra für Kinder: „Interactive Gallery“

Jetzt bleibt uns eigentlich nur noch die „interaktive Galerie“. Das ist eine Art hübsch gemachter Indoor-Spielplatz, der mit Farben, Formen und Sound-Effekten alle Sinne ansprechen möchte.

Nimmt man es genau, hat dieser Ort eigentlich überhaupt nichts mit der Baumwollspinnerei und der vorbildlichen Arbeitersiedlung zu tun. Aber die drei Kinder haben Spaß. Und wir Erwachsenen können noch eine Runde ausführlich Klönen.

„Beim letzten Mal haben wir uns hier viel zu wenig Zeit genommen“, sagt Linn-Marit. „Ich bin überwältigt, wie viel man hier erfahren kann.“

Martin und ich sind ganz baff, was für eine unbekannte Welt sich uns hier eröffnet hat. „Das ist doch ein großartiges Beispiel“, sage ich, „was ein einzelner Mann tatsächlich bewirken kann, wenn er zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, die richtigen Ideen hat und dann auch noch die Ärmel hochkrempelt und sie umsetzt.“

Aus dem Blickwinkel der Geschichte weiß ich natürlich, dass Owen später aus dem Unternehmen gedrängt wurde, sein ganzes Geld in eine scheiternde Utopie in Amerika steckte und schließlich in seinem Geburtsort in Wales verarmt dahinsiechte. Aber das, was er in New Lanark geleistet hat, wirkte als Vorbild inspirierend für ganze Generationen. Und heute hat es uns alle vier tief berührt.

Praktische Informationen für einen Besuch in New Lanark

Die New Lanark World Heritage Site befindet sich etwa jeweils eine Stunde südlich von Edinburgh, Glasgow und Sterling und ist weiträumig ausgeschildert.

Der Postcode (fürs Navi) lautet ML11 9BY.

Geöffnet ist das Freilichtmuseum täglich von 10 bis 17 Uhr, von November bis März nur bis 16 Uhr.

Ein Familienticket für zwei Erwachsene und zwei Kinder kostet 38 Pfund.

Die Jugendherberge von New Lanark

[Das Hostel wurde erst privatisiert und ist aktuell offenbar seit 2022 geschlossen. Schade!]

Eigentlich haben wir diesen Ort mal wieder nur gefunden, weil er auf der Karte der SYHA-Hostels eingezeichnet ist. Direkt in den historischen Gemäuern der alten Baumwollspinnerei befindet sich eine Jugendherberge. Wo früher Arbeiter wohnten, haben wir für zwei Nächte ein Familienzimmer gebucht.

Wir wollten in die Nähe von Edinburgh, aber richtig rein die große Stadt wollten wir nicht. Die Siedlung befindet sich ganz im Süden von Schottland, etwa auf der Hälfte zwischen Edinburgh und Glasgow.

Schottland mit Kindern, Jugendherberge New Lanark.

Janis und Silas vor dem Gebäude in New Lanark, in dem heute die Jugendherberge untergebracht ist.

Das Schöne an allen schottischen Jugendherbergen ist die Selbstversorgerküche, so dass wir nicht nur günstig schlafen, sondern auch günstig essen können.

Spaziergang durch die wunderschöne Natur am Clyde

Bevor wir die Reise weiter Richtung Norden antreten, genießen wir noch einmal die wunderschöne Natur rund um New Lanark. Die Legende sagt, dass Robert Owens Schwiegervater und Unternehmensgründer David Dale erstmals zu einem Picknick in die verwunschene Schlucht kam. Die hatte nämlich schon – wie auch die Aysgarth Falls – der britische Lieblingsmaler William Turner verewigt und damit dem Tourismus den ersten Anstoß gegeben. Der Geschäftsmann Dale sah in der Idylle freilich nur die potenzielle Wasserkraft des Flusses Clyde, die er in der Folge zur Energiegewinnung für seine Baumwollspinnerei einsetzte.

Sein sozialambitionierter Schwiegersohn ließ neben all seinen anderen vorbildhaften Leistungen auch umfangreiche Spazierwege in der Umgebung einrichten. Wenn ich mich recht erinnere, flanierten die Fabrikarbeiter etwas weiter oben. Für heutige Besucher hat der Scottish Wildilfe Trust einen malerischen Holzbohlenweg entlang des Flussufers angelegt. (Kinder im Auge behalten, es gibt kein Geländer und die Strömung ist ordentlich!) Hier wachsen auch einige seltene und weniger seltene Pflanzen, die mit laminierten Schildchen markiert sind. Drei Wasserfälle lassen sich flussaufwärts erwandern. Wir haben es aufgrund unseres Zeitplans nur bis zum Dundraff Linn geschafft, der auf hübsche Weise unspektakuläre drei Meter in die Tiefe stürzt. Für den 28 Meter hohen Corra Linn gibt der Trust eine Erwanderungszeit von gut 20 Minuten an. Noch mal eine knappe Viertelstunde drauf erreicht man den Bonnington Linn, elf Meter hoch.

New Lanark, wandern mit Kindern in Schottland

Ein wunderschöner Wanderweg startet direkt am Museum.

Wir verlassen New Lanark in bester Stimmung. Unser gestriges Kulturprogramm hat den Jungs gut gefallen. Und Spaziergänge auf gewundenen Märchenwegen mögen sie sowieso. Der Idealfall: Die ganze Familie ist glücklich und froh.

Diesen Eintrag meines Reisetagebuchs habe ich am 18. August 2013 verfasst.