Nach einem langen Tag im Museum kostet es die Kinder schon einiges an Überwindung, den vielleicht viertelstündigen Fußweg zur Bremer Altstadt einzuschlagen. Aber wenn wir schon mal hier sind, wollen wir uns einen kurzen Blick auf die Stadt doch nicht entgehen lassen. Immerhin weiß ich aus Erfahrung, dass sie wunderschön und absolut sehenswert ist.

After a long day in the museum my boys didn't feel like appreciating the famous Roland of Bremen.

Die Jungs, der Roland und gefühlt halb Bremen.

An einem Tag wie heute aber ist es schwer, diese Schönheit wertzuschätzen. Es regnet. Die Jungs quengeln. Und eigentlich sind wir alle viel zu erledigt für einen Stadtbummel. Wahrscheinlich liegt es an diesen ungünstigen Grundvoraussetzungen, dass mir die Innenstadt heute wie eine einzige Freak-Show erscheint. Unter den Dachvorsprüngen der Kaufhäuser lagern die Bettler mit ihren Hunden. Kalte Regenjacken umgeben uns. In meine Schuhe tropft Wasser. In dieser Stimmung sehe ich überall Drogenabhängige und andere Kaputte.

Zum Glück ist der Weg in die Altstadt gut ausgeschildert. Wir erreichen das Rathaus mit dem Roland davor. Ich bin durchaus bereit, bei dem Anblick dieses Kleinods der Weserrenaissance in Ehrfurcht zu versinken. Den Jungs entlocken die detailreiche Fassade und der imposante Laubengang gerade mal ein müdes Lächeln. Die Geschichte des Rolands wollten sie nicht hören, und neben ihm für ein Foto posieren auch nicht. Na gut, ich hab sowieso nur die kleine Kamera mit, die keine sonderlich schönen Bilder macht. Zu einem Abstecher um die Ecke kann ich sie noch motivieren, weil dort die Bremer Stadtmusikanten auf uns warten. Umfasst man die beiden blankgescheuerten Vorderbeine des Esels, so heißt es, geht ein Wunsch in Erfüllung. Nö, einen Wunsch haben die Jungs auch nicht parat, und überhaupt, sie kommen da ja gar nicht dran.

Of course we had to visit the famous Bremen Town Musicans, too.

Natürlich müssen wir kurz bei den Stadtmusikanten vorbeischauen.

Ich seufze, habe mir aber fest vorgenommen, noch einen kurzen Blick in die Böttcherstraße zu werfen. Von der hat die Oma nämlich so geschwärmt, die kürzlich auf Betriebsausflug hier gewesen ist. Gegenüber dem Rathaus leuchtet ein goldenes Relief zwischen den Häusern, das sich die Kinder zumindest mal angucken wollen. Es ist der Eingang zu der Gasse, die die Nazis in den 1930er Jahren als entartete Kunst deklarierten und kurzerhand dicht machten, obwohl sie sie selbst 1937 unter Denkmalschutz stellten. Widersprüchlich wie ihre Geschichte ist auch der Anblick der unregelmäßig gestalteten Backsteinfassaden. Im Inneren der Häuser sind hübsche Läden und Cafés untergebracht – glaube ich, denn mehr als einen flüchtigen Blick mochten mir meine müden Krieger nicht gönnen.

Interesting architecture all over the Böttcherstraße just off the market square.

Die Böttcherstraße ist einer meiner Lieblingsorte in Bremen.

Na gut, dann also ab zum Bahnhof. Wenn wir uns etwas beeilen, kriegen wir den nächsten  stündlichen Zug nach Hannover ohne Wartezeit. Dachten wir. Schon auf dem Rückmarsch fällt uns die gehäufte Polizeipräsenz auf. Eine Sirene dröhnt, die Kinder halten sich die Ohren zu. Ein Konvoi aus mindestens zwei Polizeimotorrädern und zwei Streifenwagen eskortiert mit Blaulicht einen Bus voll außer Kontrolle geratener Frankfurt-Fans. Im Vorbeifahren hämmert ein Fahrgast mit Fan-Schal wie ein Irrer gegen die Fensterscheibe. Seine Mitfahrer sind zu einer undefinierbaren schwarz-weißen Masse geworden, die mit ihrem Gegröle selbst das Martinshorn übertönt. Oh nein: Fußball! Die wollen doch nicht etwa auch mit unserem Zug fahren?!

Vor dem Bahnhofsgebäude haben sich verschiedene Menschentrauben gebildet. Da sind die Schwarzen, die Grünen, die freundlichen Helfer in blau-weiß glücklicherweise genau in der Mitte, und dazwischen erstaunlich viele pöbelnde Punks. Todesmutig marschiere ich mit den Kindern an der Hand mitten hinein in das Chaos. Im Inneren des Bahnhofs komme ich mir vor wie in einem Bürgerkriegsland. An jeder Wand stehen Beamte der Bereitschaftspolizei. Dazwischen tobt der Mob. Janis sagt: „Ich hasse Fußball.“ Ich raune ihm zu, dass er das hier lieber nicht zu laut sagen soll.

Wir müssen zu Gleis sechs. Das ist da, wo nicht nur zwei, sondern sechs Polizisten vor jedem Gleisaufgang stehen. „Müssen wir links oder rechts hoch?“ fragt Janis. „Das ist egal“, sage ich, „Man kommt am selben Zug raus.“ Wir gehen auf die Beamten zu und erfahren, dass das heute alles andere als egal ist. Ein freundlicher junger Mann mit Gummiknüppel an der Seite tritt mir in den Weg. „Sie wollen mit dem Zug nach Hause fahren und“ – er mustert uns mit  einem zweifelnden Blick – „haben nichts mit dem Fußballspiel zu tun?“ Ich nicke. „Benutzen Sie lieber die andere Treppe“, rät er mir. „Hier oben stehen die ganzen Frankfurt-Fans. Das könnte Ärger geben, bei den Farben.“ Verständnislos folge ich seiner Geste und sehe an uns herab. Oh. Janis trägt eine leuchtend grüne Jacke, und unter meiner weißen Regenjacke lugt auch ein grünes Shirt hervor. Kompletter Zufall, aber hier kommen wir damit trotzdem nicht weiter. Auf dem gegenüberliegenden Treppenaufgang lässt man uns dagegen ohne jeden Kommentar gemeinsam mit den anderen Grüngekleideten passieren. An diesem Ende des Zuges ist die Stimmung auch etwas weniger aufgeladen. Den Gesprächsfetzen um mich herum entnehme ich, dass Werder Bremen verloren hat. Im Großraumabteil des Regionalexpresses werden trotzdem unflätige Lieder gesungen. Man stapelt sich bereits und kugelt angetrunken im Gang herum. Kurzentschlossen verpasse ich uns ein moralisches Upgrade für die erste Klasse. Hier ist der Lärmpegel nicht wesentlich geringer (denn natürlich sind es die Dreistesten, die sich ohne entsprechendes Ticket in die erste Klasse trauen – und wir). Aber wir bekommen eine Vierer-Sitzgruppe für uns, mit so viel Beinfreiheit, dass ich schreien müsste, um den Kindern gegenüber vorzulesen. Die haben aber auch so genug Unterhaltung. Sie lernen einen Haufen neue Lieder, in denen weibliche Primärgeschlechtsorgane eine tragende Rolle spielen. Meine langjährigen Hinweise, dass nur extrem dumme Menschen solche Wörter benutzen, nehmen hier physische Gestalt an. Ein mittelaltes Pärchen, bepackt mit Einkaufstüten aus Boutiquen im gehobenen Preissegment, sorgt für immense Belustigung, indem es sich über den Lärm beschwert. Irgendwann kommt der Schaffner. Die Fans zeigen ihr Ticket vor, es kommt zu den unvermeidlichen Diskussionen, und endlich verlassen sie unter Geschimpfe die erste Klasse. Der Schaffner kommt zu uns, und ich reiche ihm mit hochgezogener Augenbraue unser einfaches Niedersachsenticket. Er gibt es mir mit einem Lächeln zurück. Kaum hat er das Abteil verlassen, drängen aus der anderen Richtung dieselben Fans wieder rein, und das unflätige Gegröle geht von vorne los.

Zum Glück müssen wir in Wunstorf umsteigen. Die S-Bahn Richtung Minden ist wesentlich ruhiger. Durch die inzwischen beträchtliche Verspätung (die nicht ausbleibt, wenn man einen Haufen betrunkener Vollidioten an jeder Haltestelle davon überzeugen muss, doch wieder aus der Lichtschranke zu gehen), hat sich unser unangenehm langer Umsteige-Aufenthalt so verkürzt, dass wir gleich losfahren. Trotzdem nehme ich mir fest vor, vor unserem nächsten Tripp mit dem Niedersachsenticket auf den Bundesliga-Spielplan zu gucken.

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