„Stell dir mal vor, du wärst echt blind“, sagt Janis, als wir uns gegen die steife Brise durch die Häuserschluchten von Hamburgs Speicherstadt kämpfen. In den kommenden 90 Minuten müssen wir unsere Vorstellungskraft nicht bemühen – wir kommen dieser Erfahrung so nahe, wie man das als dankenswerterweise gesunder Mensch nur schaffen kann: Wir haben einen „Dialog im Dunkeln“ gebucht.

Dieser Artikel ist ein Erfahrungsbericht unseres Besuchs beim „Dialog im Dunkeln“ in Hamburg. Wir haben das Angebot 2013 mit unseren Kindern genutzt (damals 9 und 7 Jahre alt). Fazit: Der „Dialog im Dunkeln“ ist mit Kindern im Grundschulalter absolut empfehlenswert!

Der Eingang in die Dunkelheit. (The entrance to total darkness.)

Der Eingang in die Dunkelheit.

Teuer – aber toll!

Obwohl seit der Eröffnung im Jahr 2000 schon mehr als eine Million Menschen die Ausstellung besucht haben, hat das Erlebnis etwas Exklusives. Das macht sich nicht am stattlichen Preis fest – als Familie zahlen wir 52 Euro – sondern vor allem an der persönlichen Atmosphäre.

Lange Warteschlangen gibt es hier nicht. Wer die komplette Lichtlosigkeit erleben möchte, muss sich rechtzeitig anmelden und zur richtigen Zeit auf der Matte stehen. Während wir darauf warten, dass sich unsere kleine Reisegruppe komplettiert, erkunden die Jungs die Sinnesstationen in der Vorhalle. Geräusche von Alltagshandlungen lassen sich hier am Telefonhörer erraten, Gebrauchsgegenstände erfühlen. In welcher Rassel befinden sich genau fünf Steine? Gar nicht so leicht, wenn man nicht nachgucken kann.

Die Reise ins Dunkle beginnt…

Dann ruft uns ein gut gelaunter Mitarbeiter an das Portal, das in die Dunkelheit führt. Er trägt dicke Brillengläser. „Ich kann nicht so gut gucken – wie die meisten, die hier arbeiten“, erklärt er, und die Jungs nicken verstehend. Das Konzept, dass hier die Blinden und Sehbehinderten die Chefs sind, weil sie den anderen Leuten am besten das Leben in der Dunkelheit vermitteln können, leuchtet ihnen völlig ein.

Enthusiastisch nehmen sie die Taststöcke entgegen, die der junge Mann ihnen auf die richtige Größe einstellt. Auch wir Großen bekommen ein solches Hilfsmittel. Ein paar Verhaltensregeln gibt es noch mit auf den Weg – das Stockende bleibt immer am Boden und wird keinesfalls zum Schwertkampf benutzt, danke der Nachfrage – dann tasten wir uns vorsichtig den Gang entlang in die zunehmende Dunkelheit.

Mit Klaus durch die Nacht

„Hallihallo, hier lang, bitte!“ weist uns eine Stimme die Richtung. Sie gehört Klaus, der unsere kleine Gruppe durch das Abenteuer führt. Wir schließen zu ihm auf und müssen uns erstmal einen Moment lang daran gewöhnen, absolut nichts sehen zu können. Klaus kennt das, schließlich führt er regelmäßig Ungeübte durch seine Welt. Während unser Hirn den Verlust der Sehfähigkeit verdaut, fragt er uns nach unseren Namen. „Erzählt mir ein bisschen was“, bittet er, „damit ich eure Stimmen zuordnen kann.“

Wir sind zu zehnt in unserer kleinen Reisegemeinschaft. Außer uns vieren und Klaus sind da ein Ehepaar aus Rostock und eine Mutter mit Sohn im Teenageralter, dessen Freundin zu Besuch ist. Überraschend schnell stellt sich ein Gemeinschaftsgefühl ein: Wir sind hier aufeinander angewiesen, müssen reden, damit wir nicht übereinander stolpern.

Gefühlt quer durch Hamburg…

Als erstes führt uns Klaus in einen Park. „Haltet euch links und tastet euch bis zu dem Zaun vor“, lautet seine Anweisung. „Ich hab ihn gefunden!“ triumphiert Janis. „Die Blätter sind ja aus Plastik!“ empört sich Silas, der zwischenzeitlich gegen einen Baum gelaufen ist. „Denk doch mal nach!“ schaltet sich sein großer Bruder ein, und obwohl ich ihn nicht sehen kann, weiß ich, dass er mit den Augen rollt. „Wie sollen hier denn ohne Licht echte Pflanzen wachsen?“ Das sieht Silas ein. „Stimmt, ich bin ja nicht wirklich blind, es ist ja bloß dunkel.“ Zum Glück. Denn ansonsten ist das Gefühl erschreckend echt.

Wir betreten einen typischen Lagerraum in der Speicherstadt. „Riecht ihr, was hier gelagert wird?“ fragt Klaus. Die Jungs wissen es sofort: Gewürze. Wir wühlen in verschiedenen Säcken und Fässern, ertasten Sternanis und Pfefferkörner, schnuppern Zimt und Nelken. Durch das Gewürzmuseum gestern sind die Jungs so gut vorgebildet, dass sie Klaus mit ihren Kenntnissen beeindrucken.

Wir erreichen den Markt – und hier ist nichts aus Plastik. Ein gut sortierter Obst- und Gemüsestand steht zum Stöbern bereit. Bananen und Äpfel sind leicht zu ertasten. Aber ist das hier jetzt ein Kürbis oder eine Galiamelone? Der Geruchstest gibt Aufschluss: Es ist eine Steckrübe. Wieder sind die Kinder begeistert und mit einer erstaunlich hohen Treffsicherheit dabei.

Schreckmoment inklusive

Wir tappen einen Straßenzug entlang. Mit ausgestreckter Hand fühle ich Mauerwerk, Haustüren, Klingelschilder. „So, Vorsicht. Da vorne müssen wir gleich eine Straße überqueren“, warnt uns Klaus. Unsere Gruppe sammelt sich, ich stoße scheppernd mit der Ampel zusammen. Wo sind eigentlich meine Kinder? Ich taste nach ihnen, gerate an den Falschen und bin so verwirrt, dass ich bei Ertönen des Signals in die falsche Richtung laufe. Plötzlich stehe ich mitten zwischen den Autos, mein Taststock schrammt unschön am Lack entlang. Die haben doch bestimmt schon wieder grün, und ich steh hier immer noch auf der Straße!

Zum Glück ist das alles ja doch keine Realität, und so schaffe ich es schließlich zurück zu den anderen. Es wird maritim, wir gehen über einen Bootssteg, ertasten Taue und meistern die Herausforderung, nicht ins Wasser zu fallen. Klaus bugsiert uns alle nacheinander in ein kleines Boot, das auf einem (nachgebauten) Fleet schaukelt. Ratternd springt der Motor an, und unser Fremdenführer beschreibt uns unsere Hafenrundfahrt. Als wir wieder aussteigen, sind die Jungs überzeugt: „Wir sind woanders angekommen! Das fühlt sich anders an als da, wo wir eingestiegen sind.“

Meditativ wird’s im Klangraum. Hier strecken wir uns auf Klaus’ Anweisung lang auf dem Boden aus und nehmen die Musik in uns auf, die durch Wände, Fußboden und unsere Körper vibriert. „Langweilig“, motzt Silas neben mir. Ich bin von der Musikauswahl nicht so ganz angetan. Aber das Pärchen auf meiner anderen Seite ist begeistert, ihren Knutschgeräuschen nach zu urteilen.

Absacker in der Dunkel-Bar

Letzte Station ist die Dunkel-Bar. Klaus leitet seine kleine Truppe an den Tresen. Stimmengewirr verrät uns, dass wir nicht die einzigen Gäste sind. Hier klingt die Tour in lockerer Atmosphäre aus. Wir bestellen uns Getränke in der Flasche – auch wenn eine Tasse Kaffee sicherlich herausfordernder wäre. Auch Kleinigkeiten zu Essen gibt es. Das blinde Hantieren mit dem Kleingeld fällt uns als Ungeübten schwer. Aber wir werden belohnt: Der Schokoriegel schmeckt in der Dunkelheit irgendwie intensiver, sind wir uns einig.

Wir verabschieden uns von Klaus, den wir in der kurzen Zeit richtig lieb gewonnen haben. Zu sehen kriegen wir ihn aber nicht – gleiches Recht für alle. So lassen wir ihn in der Dunkelheit zurück und schreiten – mittlerweile schon viel sicherer und ganz bestimmt auch mit viel mehr Verständnis für die alltäglichen Herausforderungen Blinder und Sehbehinderter – dem Ausgang und dem Tageslicht entgegen.

Praktische Infos zum Dialog im Dunkeln mit Kindern

Öffnungszeiten: Den „Dialog im Dunkeln“ in der Hamburger Speicherstadt gibt es dienstags bis samstags von 9 bis 16 Uhr. An Sonn- und Feiertagen ist nur eingeschränkt geöffnet. Aber: Spontan geht’s nur mit viel Glück, unbedingt vorbuchen!

Ticket-Preise: Die normale Tour (60 Minuten) kostet für Familien (2+2) mittlerweile (im Jahr 2022) 66 Euro. Erwachsene zahlen 19,50 Euro, Kinder bis 14 Jahre 13,50 Euro. Mehr und immer aktuelle Infos gibt es auf der Homepage des Dialogs im Dunkeln.

Mehr über Hamburg mit Kindern

Weitere Erfahrungsberichte von unserem Städtetrip nach Hamburg gibt es hier:

Städtetrips mit Kindern nach Hamburg

Silas erzählt selbst, wie er Hamburg so fand.

Und: Maria-Bettina von Kind am Tellerrand war mit ihren beiden Mädels auch beim Dialog im Dunkeln und hat darüber berichtet.