Und wie macht ihr das mit der Schule?“ Das ist grundsätzlich die erste Frage, wenn wir jemandem von unserer großen Reise erzählen (noch vor dem ebenso unvermeidlichen „Wie könnt ihr euch das denn leisten?“).

Dass viele, nicht nur Deutsche, wenig von der Idee halten, die Jungs fast ein komplettes Jahr einer ordnungsgemäßen Bildungsanstalt zu entziehen, schwingt oft in ihrem Tonfall mit. Wer dann Zeuge von Silas’ doch noch etwas hölzernen Leseversuchen wird oder Janis’ oft recht schwer entzifferbare Schrift zu Gesicht bekommt, schmunzelt mitunter, in seinem Urteil bestätigt, in sich hinein. Wenn wir uns dann aber ein bisschen besser kennen lernen, folgen ungläubige Bemerkungen wie: „Wissen so etwas in Deutschland alle Kinder in dem Alter?“ oder „Wo haben die denn das alles gelernt?“ Dann nämlich beeindrucken die Jungs, indem sie beiläufig alle sieben Weltwunder der Antike aufzählen, anhand griechisch-römischer Trümmerteile die Konstruktionsweise des betreffenden Tempels analysieren oder sich in die Wolle kriegen, ob nun die Phryger oder die Mykener die Gegend zuerst besiedelt haben, und ob das vor oder nach der Deponierung der Himmelsscheibe von Nebra passierte.

Reisen bildet, das ist klar. Dass die Jungs nach unserer Grande Tour durch Europa in Geschichte und Erdkunde unschlagbar sein werden, bezweifelt niemand.

Aber da ist ja immer noch die Sache mit dem Lesen und Schreiben, mag der Kritiker einwerfen. Tatsächlich hat sich Janis’ Schriftbild deutlich verbessert, seit er sich nicht mehr als einer von über 30 den Blicken des Lehrers entziehen kann. Und Silas liegt mit seinen Lesekünsten auch gut im Schnitt, denn Waldorfschüler fangen damit traditionell erst nach den Herbstferien in der zweiten Klasse an.

Balkendiagramme, Größenvergleiche, Verhältnisrechnung - auf der Reise läuft das bei uns immer am lebenden Beispiel.

Balkendiagramme, Größenvergleiche, Verhältnisrechnung – auf der Reise beim „Travelschooling“ läuft das bei uns immer am lebenden Beispiel.

Das Thema Schulbefreiung und Behörden

Um die Zustimmung der deutschen Behörden zu gewinnen, mussten wir die beiden an einer international agierenden Fernschule einschreiben. So sollte gewährleistet werden, dass die armen Kinder in wechselnden Ausländern nicht völlig ohne schulische Bildung bleiben. Die Sache hat mich einiges an Überredungskünsten mit langem Atem gekostet, denn lieber wäre es den Damen auf den anderen Seiten der Amtsschreibtische gewesen, wir würden die Jungs auf der Reise an ordentlichen Schulen anmelden – vier Wochen in Rumänien, zwei Wochen in Bulgarien, drei Wochen in der Türkei, jeweils ohne die geringsten Sprachkenntnisse – das wäre trotz allem gesetzestreuer, fanden sie. Die Kinder in enger Absprache mit der Heimatschule selbst zu unterrichten, kam für alle Offiziellen absolut überhaupt gar nicht in Frage.Homeschooling“ scheint in Deutschland ähnlich indiskutabel tabu zu sein wie etwa Inzest oder Kannibalismus.

So sind unsere Jungs also Besitzer eines teuren amerikanischen Schülerausweises. Würden wir uns auf die Mindestanforderungen dieser Fernschule beschränken, könnten wir uns entspannt zurücklehnen und die beiden voll und ganz dem Freilerner-Konzept überlassen, das unter dem englischen Stichwort „unschooling“ erstrecht ein rotes Tuch für die deutschen Behörden sein muss. Da wir jedoch ein großes Interesse daran haben, dass die Jungs nach unserer Reise nahtlos in ihre alten Klassen zurückkehren können, ist in unserem Reise-Alltag doch regelmäßig „travelschooling“ angesagt. Nicht jeden Tag – eine Exkursion zu einer archäologischen Ausgrabungsstätte, eine Wanderung durchs Hochalpental, ein Museumsbesuch und auch ein Tag intensiven Spielens mit Couchsurfing-Kindern gelten als hinreichende Ausrede, sich heute nicht an den Küchentisch der Ferienwohnung zu setzen. Dafür machen wir keine Unterschiede zwischen den Wochentagen. Oft genug nutzen wir einen regnerischen Sonntag, um ausgiebig über englischen Grammatik-Arbeitsheften und Erstlesebüchern zu sitzen. Die Jungs akzeptieren das. Ihnen ist bewusst, dass sie sich unterm Strich sehr viel weniger hinsetzen müssen als ihre Schulkameraden zu Hause. Im Schnitt kommen wir auf vielleicht eine Stunde Unterrichtssituation pro Tag (der Große etwas mehr, der Kleine etwas weniger). Das meiste lernen sie natürlich in der Zeit davor und danach: Geschichte und Geografie zum Anfassen, interkulturelle Kompetenz, Englisch und bisweilen Kroatisch oder Ungarisch – wer weiß, wozu es einmal gut sein wird.

Lernen mit Meerblick - erst aus dem Buch, dann am praktischen Beispiel.

Lernen mit Meerblick – travelschooling erst aus dem Buch, dann am praktischen Beispiel.

Unterricht unterwegs

Als Berufsschul-Dozentin und Museumspädagogin bin ich didaktisch nicht ganz unbedarft. Selbermachen ist der beste Weg des Lernens. Um dauerhaft Eingang ins Gedächtnis zu finden, sind zusätzliche Reflexion und Wiederholung nötig. Ebenso simpel wie effektiv eignet sich da das gute alte Reisetagebuch.

Als Mutter kenne ich meine Jungs sehr gut und weiß, dass sie sich jeder Fleißarbeit nach Möglichkeit entziehen. Würde ich täglich „mindestens eine Seite im Tagebuch“ verlangen, wie das bei Nathalies Familien-Weltreise mit zwei Mädchen wunderbar funktioniert hat, würden meine beiden die Schriftgröße so anpassen, dass ein Satz die Seite füllt, und mich lieber in einer halbstündigen Diskussion an die Wand quatschen, dass das den Vorgaben anstandslos genügt. Stattdessen habe ich – nach Idee und Vorlage von Mrs.Berry – „Länderhefte“ angefertigt. Zu verschiedenen Stichworten wie „Landschaft“, „Essen“, „Begegnungen mit Menschen“ und „Wissenswertes“ füllen die Jungs leere Seiten mit ihren Erfahrungen im jeweiligen Land. Über das Verhältnis von Texten zu Zeichnungen wird natürlich immer noch fleißig diskutiert. Aber die Idee, diese Hefte an die Schule zu Hause zu schicken, damit die Klassenkameraden einen Eindruck von unserem aktuellen Reiseziel bekommen, hat für vergleichsweise enorme Motivation gesorgt. Auch dass das Heft ausgefüllt werden muss, solange wir uns im jeweiligen Land befinden, leuchtet den Kindern ein. „Und wenn wir erwachsen sind, haben wir eine tolle Erinnerung und können nachschlagen“, sagt Janis (in einem guten Moment, in dem er nicht sauer ist, weil er lieber mal wieder ausgiebig Playmobil spielen will, statt sich nach der Deklinationsübung auch noch an sein Länderheft zu setzen).

Ihre Länderhefte füllen die Jungs selbst mit Inhalt - jeder so gut wie er kann und (fast...) ohne Zensur.

Ihre Länderhefte füllen die Jungs selbst mit Inhalt – jeder so gut wie er kann und (fast…) ohne Zensur.

Außerdem führen wir beim Travelschooling ein Lernprotokoll. In der einen Spalte dokumentiere ich sowohl die klassischen Unterrichtsinhalte, die wir an diesem Tag behandelt haben, als auch die außerschulischen Lernangebote, die die Jungs genutzt haben (Museen, Sehenswürdigkeiten, Stadtbesichtigungen,…). In den anderen beiden Spalten nennen mir die Kinder jeweils drei Dinge, die sie an diesem Tag gelernt oder erfahren haben – vollkommen unabhängig vom „Schulstoff“ und weitgehend unzensiert („Nein, ‚ich habe gelernt, dass der Himmel auch in der Türkei blau ist’ gilt nicht, denk bitte noch mal nach und sag was Ordentliches!“). Dieses Lernprotokoll zwischen Zähneputzen und Gute-Nacht-Geschichte ist uns zum wichtigen Ritual geworden. In dieser Situation wird noch manches Missverständnis aufgeklärt (Kaiser Konstantin war kein Osmane, obwohl Istanbul auch noch zu osmanischer Zeit Konstantinopel hieß). Manche Befürchtung wird ausgesprochen und besänftigt (wer auf den Wegen bleibt, wird heute auch in Bosnien nicht mehr auf eine Mine treten). Was die Kinder selbst als Gelerntes nennen, hat übrigens in den seltensten Fällen mit dem behandelten Schulstoff zu tun.

Ein gutes Zeugnis

Mitte Januar wurden wir daran erinnert, dass wir offiziell doch noch zwei Fernschüler mit uns führen: Die internationale Schule forderte „progress reports“ für die Halbjahreszeugnisse. Dank meiner akribischen Dokumentation unseres Travelschoolings waren diese recht schnell zusammengeschrieben (nachdem ich mir mühsam ergoogelt hatte, was Ausdrücke wie „sehr sicher auch im Subtrahieren mit Zehnerübergang“ und „beherrscht alle Grundrechenarten mit beliebig großen Zahlen zuverlässig“ auf Englisch heißen). Im Abgleich mit dem Kurrikulum der zweiten und fünften Klasse zu Hause stellte ich verblüfft fest, dass wir damit schon etwa drei Viertel des heimatlichen Schulstoffs erledigt haben. Auf der Reise, so nebenbei.

Dabei erledigen wir das Pensum keineswegs „irgendwie“. Das Schöne am Travelschooling ist der Einzelunterricht, bei dem wir den Schulstoff immer so lange behandeln, bis die Jungs ihn verstanden haben und zuverlässig beherrschen – keine Minute kürzer und keine Minute länger. So kommt es, dass Janis unterwegs viel mehr Mathe-Unterricht bekommt und wir die Sprachlehre eher im Vorbeigehen abhaken. In beiden Bereichen ist er sicherer als jemals zuvor in seiner Schullaufbahn.

Mit gutem Beispiel voran

Dass es auch ganz ohne Schule bis zum (überdurchschnittlich guten) Abitur funktioniert, hat gerade Esra Reichert bewiesen, Sohn der Nordlicht-Fotografin und Reisebloggerin Gabi Reichert. Sein ausführlicher Bericht übers Freilern-Abi steht hier.

Ohne Hinsetzen und Anpacken geht das nicht, weder in der zweiten noch in der zwölften Klassenstufe. Ohne Motivation auch nicht, weder in der klassischen „Hingeh-Schule“ noch beim Travelschooling. Meine Jungs gehen gerne zur Schule und freuen sich (manchmal) schon darauf, in ihre alte Klasse zurückzukehren. Gleichzeitig genießen sie die Ausnahmesituation.

Auf der Reise ist Janis der einzige Schüler in seiner Klasse. Meistens.

Auf der Reise ist Janis der einzige Schüler in seiner Klasse. Meistens.

Man hat es uns nicht leicht gemacht, unser Vorhaben rechtlich in trockene Tücher zu wickeln. Und ich finde es auch völlig in Ordnung, dass nicht jeder sein Kind ohne weiteres aus dem Unterricht nehmen und durch die Weltgeschichte schleppen darf. Bildung ist ein hohes Gut. Ich würde mir allerdings wünschen, dass die gesetzlichen Regelungen mit etwas mehr gesundem Menschenverstand angewandt werden. Warum wird nicht jedem Schulleiter zugetraut, in Absprache mit den Klassenlehrern im Einzelfall zu entscheiden, ob eine zeitlich begrenzte Schulbefreiung für dieses bestimmte Kind zu verantworten ist? Die Klassenlehrerin kennt sowohl den Schüler als auch die Eltern und kann beurteilen, ob auch während der Abwesenheit mit einer Verbesserung der schulischen Bildung zu rechnen ist – im Gegensatz zu  irgendwelchen Menschen in Amtsstuben, die in Wirklichkeit vom realen Schulbetrieb doch ganz weit weg sind und vom jeweiligen Kind bestenfalls den Namen wissen. Beispiele wie wir, wie Esra, wie die Segel-Mädchen Maya und Lena und auch die Kinder von Geo-Fotograf Malte Clavin zeigen, dass ein bisschen Freiheit keineswegs im Bildungs-Desaster endet.

Genauso deutlich aber muss man sagen, dass Eltern mit einem solchen Schritt eine enorme Verantwortung übernehmen. Dessen sollte man sich bewusst sein: Mit schulpflichtigen Kindern zu reisen bedeutet, einen nicht unbeträchtlichen Teil des Reisealltags der Bildungsarbeit zu opfern und im Zweifelsfall für das Ergebnis verantwortlich zu sein. Eine akademische Ausbildung ist vielleicht nicht zwingend erforderlich, um Grundschülern unterwegs das 1×1 beizubringen. Aber bei meinem Fünftklässler bin ich doch froh, dass die mathematischen Fragen der Ingenieur an meiner Seite beantworten kann, der wiederum keine große Hilfe im Kampf mit der englischen und deutschen Grammatik ist (dafür bin dann wieder ich zuständig). Man braucht kein Staatsexamen, um seinen Kindern durch den Stoff eines Schuljahres zu helfen. Vor allem braucht man viel Geduld und Disziplin – ob man alle nötigen Voraussetzungen erfüllt, wird man erst hinterher wirklich beurteilen können. Von mir nach einem Schulhalbjahr Travelschooling nur so viel: Es ist leichter als ich dachte.

Und das sagen die Jungs

Silas (8): „Manchmal passt es mir nicht, Schule zu machen, weil ich gerade spielen will. Aber das ist ja in der normalen Schule genauso. Dafür sehe ich in der richtigen Schule meine Klassenkameraden wieder, darauf freue ich mich schon. Vom Lernen her lerne ich, glaube ich, genauso viel.“

 

Janis (10): „Ich finde das ganz gut, auf der Reise nur einer in meiner Klasse zu sein. Denn es dreht sich so ja alles nur um den einen Schüler, also mich. Ich glaube, insgesamt lerne ich weniger als in der Schule, denn wir machen ja einfach weniger, zum Beispiel Handarbeit oder Musik. Über Geschichte lerne ich dafür wieder ganz viel, vor Ort. Ich freu mich aber auch darauf, wieder zurückzukommen und zur Schule zu gehen – weil es im Hort tolles Spielzeug gibt.“

E-Book: Unser Weg zur Schulbefreiung

Update: Inzwischen habe ich unsere Erfahrungen mit dem Homeschooling bzw. „Travelschooling“ und unseren recht steinigen Weg zur temporären Befreiung von der Schulpflicht ausführlich in einem E-Book zusammengefasst. Es kostet genau einen Cappuccino in meinem Lieblingscafé. Wie ihr es bekommt, was genau alles drin steht (und was nicht), erkläre ich hier.

Und über unsere 11-monatige Reise an sich habe ich inzwischen ein ganzes Buch geschrieben: „Die Entdeckung Europas“. Im Gegensatz zum Blog stehen dort die persönlichen Begegnungen und das „gefühlte Reisen“ während unserer Langzeitreise mit Familie im Mittelpunkt. Auch unser „Travelschooling“ wird dabei immer wieder thematisiert.

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