Dieser Beitrag könnte Seiten füllen mit der Geschichte der jüdischen Gemeinde in Transsilvanien und der baulichen wie sozialpolitischen Vergangenheit der Synagoge von Targu Mures. Ihr kennt mich, ich muss mir da immer sehr auf die Zunge beißen. Aber ich halte an mich und teile nur eine Momentaufnahme mit euch, die einen perfekten Augenblick auf unserer großen Europareise illustriert.

Es ist der Moment, in dem ich zwischen den Holzbänken des Gotteshaus stehe, den Worten des alten Mannes lausche, der uns herumführt, und meine beiden Jungs beobachte, die in einer Mischung aus eifrigem Ernst und selbstironischer Albernheit ihre Kippa auf dem Kopf festhalten, während sie ihren Blick auf die prächtigen Ausmalungen an der Decke richten.

Mit Kindern Synagoge besichtigen

Wer als Mann in die Synagoge will, muss eine Kippa aufsetzen. Ganz egal, wie alt Mann ist.

Targu Mures ist eine Stadt im Nordosten Transsilvaniens, kurz bevor es durch die Karpaten ernsthaft bergig wird. Manchmal wird sie auch Tirgu Mures buchstabiert. Sie liegt im alten deutschen Siedlungsgebiet Siebenbürgen (ich habe nie so ganz verstanden, welchen Unterschied es wirklich zwischen Transsilvanien und Siebenbürgen gibt und verwende beide Begriffe deshalb ebenso synonym wie der Rest der Welt anscheinend). Der alte deutsche Name von Targu Mures lautet Neumarkt am Mieresch, aber die mittelalterlichen Zuwanderer sind inzwischen fast vollständig verschwunden. Hier an diesem Ort waren sie sowieso immer nur eine kleine Minderheit. Die Mehrheit der Stadtbevölkerung stellen von jeher die Ungarn, denn es waren ungarische Szekler, die den Ort im Hochmittelalter gründeten. In ihrer Sprache heißt die Stadt Marosvasarhely. Heute ist das Verhältnis zwischen Ungarn und Rumänen zahlenmäßig fast ausgeglichen. Mit knapp 130.000 Einwohnern geht Targu Mures als Großstadt durch, auch wenn man (also, wir) als durchschnittlicher Europäer nie von diesem Ort gehört hat.

Targu Mures ist aber von jeher nicht nur die „ungarischste“ Stadt Rumäniens, sondern auch die jüdischste. Generell hat das Judentum hier eine weit weniger herausragende Rolle gespielt als in der Geschichte Westeuropas. Aber es gab Juden, natürlich. In Targu Mures machten sie zeitweise mehr als zehn Prozent der Bevölkerung aus (wenn die Ermittlung der Zahlen auch nicht ganz einfach zu sein scheint, da sie wohl aus politischen Gründen aus der Statistik gerechnet wurden).

Die Synagoge von Targu Mures von außen.

Die Synagoge von Targu Mures von außen.

Die Synagoge der Stadt ist ein schmuckes Bauwerk in der Strada Aurel Filimon nahe der Innenstadt. Im Jahr 1900 fertiggestellt, nimmt es seiner Zeit entsprechend Anleihen in allen möglichen Kunstrichtungen – ich bin alles andere als ein Architektur-Experte, aber ich habe den Verdacht, dass der Bau vor einem kunsthistorisch geschulten Auge womöglich nicht gut wegkommen würde. Uns Ahnungslose jedenfalls beeindrucken die riesige Rosette an der Frontseite und die hebräischen Schriftzüge an der Fassade.

Ein unscheinbares kleines Schild vermerkt auch auf Englisch, dass Besucher sich im Gemeindezentrum melden können, wenn sie die Synagoge besichtigen wollen. Es gibt in Targu Mures nur wenige Must-Sees und Sehenswürdigkeiten, weshalb wir hauptsächlich einfach durch die Stadt bummeln und für spontane Abenteuer offen sind. Also versuchen wir unser Glück. Es ist nicht ganz einfach, in dem heruntergekommenen Konglomerat aus Nachbargebäuden das auszumachen, in dem das Gemeindebüro untergebracht ist (wir sind zu diesem Zeitpunkt erst wenige Wochen unterwegs und noch nicht daran gewöhnt, dass im gesamten Südosten Europas viele offizielle Stellen Hinterhofcharakter haben).

Schließlich finden wir den richtigen Eingang und treffen im Hausflur auf ein paar Männer ohne Englisch- oder Deutschkenntnisse. So halbwegs klären wir unser Anliegen, und sie bedeuten uns zu warten, während sie sich darum kümmern. Eine ganze Weile stehen wir ratlos im Flur herum, und als wir uns gerade zu fragen beginnen, ob wir das richtig verstanden haben oder wir in Wirklichkeit weggeschickt worden sind, kommt ein schmächtiger Mann Mitte 60 mit einem verschmitzten Lächeln und sympathischem Blick auf uns zu. Er stellt sich nicht vor, und irgendwie kommen wir darüber weg, ihn nach seinem Namen zu fragen. Erst später erfahren wir, dass er das einzige übrig gebliebene Gemeindemitglied ist, das Englisch spricht. Dass er gerade im Gemeindebüro vorbeigeschaut hat, ist Zufall – und zwar ein großartiger, denn so bekommen wir unsere ganz persönliche Führung durch das Gotteshaus.

Der Innenraum der Synagoge von Targu Mures ist bunt und prächtig.

Der Innenraum der Synagoge von Targu Mures ist bunt und prächtig.

Beim Betreten der Synagoge müssen alle männlichen Beteiligten eine Kippa aufsetzen – auch die Jungs.

„Warum?“ will Silas natürlich sofort wissen. Um die Antwort zu verstehen, reicht sein Englisch zu diesem Zeitpunkt noch nicht, und das unseres Führers ist auch nicht so super, aber ich kann vermitteln.

„Ich weiß nicht, warum das so ist“, sagt der alte Mann freundlich. „Ich habe es so gelernt und nie hinterfragt. Ich denke, es hat etwas mit Respekt vor diesem Ort zu tun.“

Silas genügt das, und er achtet in der folgenden Dreiviertelstunde peinlich darauf, dass das kleine Hütchen auf seinem Hinterkopf bleibt.

Die Synagoge von Targu Mures ist frisch renoviert – was nicht bedeutet, dass mit der Statik des Gebäudes alles in Ordnung ist. Die Emporen sind einsturzgefährdet und dürfen nicht mehr betreten werden. Aber die Spendengelder derer, die ausgewandert sind und ihre Heimat nicht vergessen haben, hätten ausgereicht, um zumindest das Erscheinungsbild der Synagoge wieder herzustellen, erzählt unser Guide. Die aktive Gemeinde allerdings schrumpfe unaufhaltsam. „Wir sind weniger als 20, die sich regelmäßig treffen und sich verantwortlich fühlen“, sagt der Mann. Dann seufzt er. „Nein, wenn ich darüber nachdenke, sind wir eigentlich weniger als zehn.“ Auch in seiner eigenen Familie spiele der Glauben keine aktive Rolle mehr. Seine Söhne hätten beide keine Jüdinnen geheiratet, somit gelten seine Enkelkinder nach traditioneller Auffassung nicht als Juden. Das mache ihm nichts aus, versichert er und lobt seine Schwiegertöchter. Aber schade sei es schon, wenngleich unaufhaltsam, dass so viele Traditionen mit ihm untergehen.

Innenraum der Synagoge von Targu Mures

„Das weiß ich nicht“, antwortet uns unser Führer, als ich ihn frage, was auf der Tafel in hebräischen Buchstaben geschrieben steht. Die eindrücklichste Erkenntnis, die ich von unserer Besichtigung der Synagoge mitnehme, ist die, wie jahrhundertealte Kultur hier vergeht.

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Insgesamt haben wir vier Wochen als Familie in Rumänien verbracht. Alle Beiträge, die über diese Zeit entstanden sind, finden sich in dieser Zusammenfassung:

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