Der Nieselregen schlägt uns ins Gesicht und die Kälte kriecht unsere Jackenärmel hoch, als wir das Parkhaus verlassen und uns in Richtung Hamelner Altstadt aufmachen. Wie schön: ideales Museumswetter!
Trotzdem lassen wir uns Zeit auf dem Weg, denn die Häuser der Altstadt verführen uns immer wieder zu einem Blick nach oben. Da ist das Rattenfängerhaus mit seiner prächtigen Fassade: ein Glanzstück der Weserrenaissance. Eine Inschrift ziert seit dem frühen 16. Jahrhundert die Fassade zur Bungelosenstraße – die „Straße ohne Trommeln“ oder Musik. Durch diese nämlich soll der Rattenfänger gezogen sein, wie eben jene Inschrift berichtet, am Johannistag des Jahres 1284, gefolgt von 130 Kindern der Stadt, die niemals zurückkehrten.
Der Rattenfänger spielt freilich auch im Hamelner Museum eine große Rolle. Immerhin verdankt die Stadt ihm rege Touristenströme – ihm und der außerordentlich schönen Innenstadt mit all den Fachwerkhäusern und all der Weserrenaissance. Zunächst aber erkunden wir die Frühzeit im Erdgeschoss, entdecken einen Wollnashorn-Schädel und steinzeitliche Pfeilspitzen. Besonders spannend finden zumindest wir Großen auch die zahlreichen Fenster in die Baugeschichte der beiden verbundenen Museumshäuser. So wurde bei der vor zwei Jahren abgeschlossenen Renovierung beispielsweise ein Stückchen ursprünglicher Steinboden freigelegt; in einem anderen Raum sind die vielen aufeinander folgenden Farbanstriche der Wände kenntlich gemacht, dann wieder eröffnet sich der Blick auf die vielschichtige Konstruktion der Türzarge: Diese Gebäude enthalten nicht nur Geschichte, sie sind Geschichte selbst.
Eine Mitarbeiterin ruft alle Besucher zusammen. Das Rattenfänger-Theater beginnt. Wir folgen dem Strom in den ersten Stock, hinein ins schummerige Halbdunkel. Ein Band aus roten Lämpchen kennzeichnet eine Bühne. Gespannt nehmen wir auf den bereitstehenden Fässern und Mehlsäcken platz. Schon huschen lichterne Ratten über den Fußboden. Der Deckel der großen Kiste vor uns öffnet sich, und zum Vorschein kommen Hamelner Bürger in gewöhnungsbedürftiger Optik: mechanische Gestalten aus allerlei Küchenutensilien, Werkzeugen und Metallschrott, die sich einsilbig, aber multilingual über die Rattenplage beschweren. Auch beim Rattenfänger, der daraufhin die Bühne betritt – oder besser gesagt: berollt – bedarf es einiger Abstraktionsfähigkeit, um ihn als solchen zu erkennen. Janis und ich sind begeistert. Dem Gesichtsausdruck meines Sechsjährigen entnehme ich, dass er sich überhaupt keinen Reim auf die Geschehnisse machen kann. Als sein großer Bruder und ich ihm auf die Sprünge helfen und ihm die Symbolik erklären, mit der die Installation die bekannte Sage nacherzählt, verzieht er verächtlich das Gesicht und sagt: „Aha.“ Keinen Sinn für avantgardistische Kunst, das Kind.
Nachdem wir das Theater verlassen haben, schauen wir uns die anderen Exponate zum Thema Rattenfänger gründlich an. Wir lernen, dass die Sage vom Kinderauszug seit dem frühen 16. Jahrhundert greifbar ist, vermutlich aber seit dem überlieferten Datum in irgendeiner Form kursiert. Ursprünglich waren es wohl zwei verschiedene Sagen. Dass es ein geprellter Kammerjäger war, der die Hamelner Jungbürger entführte, gilt als Erkenntnis der frühen Neuzeit. Den wahren Kern der ursprünglichen Legende vermutet man in der Kolonialisierung der östlichen Landstriche, möglicherweise in Siebenbürgen (das übrigens auch ein herrliches Reiseland ist). Hierfür sandten Landesherren Werber in bereits gut entwickelte Städte wie eben Hameln, um junge, abenteuerlustige (oder perspektivlose) Menschen in ein neues Leben zu führen. Was genau es nun aber mit den Ratten auf sich hat, ist den Forschern bis heute recht schleierhaft.
Auch die genauen Umstände der Gründung Hamelns liegen im Dunkeln. Von da aus aber erwartet uns Erhellendes in den übrigen Räumlichkeiten des Museums. Wir verfolgen die Stadtentwicklung von der Gründung der Gilden im Mittelalter, ihren wirtschaftlichen Aufschwung bis zur Ausbildung der Weserrenaissance im späten 16. Jahrhundert. Die sprechende Fassade des Ratternfängerhauses im Miniaturformat erzählt uns etwas über die wesentlichen Merkmale dieser bedeutenden Stilrichtung. Weiter geht es durch die Wirren der Reformation und des 30-jährigen Kriegs, ab in die Biedermeierzeit und schließlich hoch unters Dach ins 20. Jahrhundert. Hier stehen die Weltkriege im Mittelpunkt, aber auch die unruhige Zeit danach. Mit großer Ausdauer und wachem Interesse hören die Jungs Flüchtlingen aus den Ostgebieten zu. Zeitzeugen erzählen anschaulich am „Telefon“, wie sie als Kinder ihr Zuhause verlassen mussten und nach Hameln kamen – in gewisser Weise die Umkehrung der Rattenfänger-Sage, wenn man so will.
Wieder zurück in der Gegenwart lassen wir den schönen Ausflug nebenan im Museumscafé ausklingen. Bei heißer Milch mit Honig für die Jungs und einem Stück sehr guter Ingwer-Schokoladen-Torte für mich frage ich, was genau sie am meisten beeindruckt hat, heute im Museum. „Dass das Museum komische Roboter hat“, gibt Janis zu Protokoll. Seine Augen leuchten, und er beginnt, das Bühnenbild in sein Ausflugstagebuch zu malen. Silas überlegt etwas länger. „Die Ausstellung über die Flüchtlinge mit der Hörstation“, sagt er dann nachdenklich. „Ich hätte nicht gedacht, dass die Brüder von Kindern in den Krieg ziehen mussten. Und ich frage mich, ob die Kinder dem Rattenfänger freiwillig gefolgt sind oder nicht, und ob sie es bereut haben und wieder zurück wollten.“ Ich erkläre ihm, dass es völlig okay ist, mit offenen Fragen aus einem Museum heraus zu kommen. Dass man niemals alles über die Vergangenheit wissen kann. Genau zu dieser Tatsache steht das Hamelner Museum im Besonderen, wie ich später erkenne, als ich mir den Text auf der Homepage durchlese: „Geschichte ist vielfältig und niemals eindimensional. Wir stellen oft Fragen, deren Antwort es heute noch nicht gibt. Unser Interesse gilt der Forschung, die nicht still steht sondern immer weiter arbeitet.“ Das gefällt mir.
Das Museum Hameln befindet sich in der Fußgängerzone (Osterstraße 8 bis 9) und ist täglich (außer montags) von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Eine Familienkarte kostet 12 Euro. Das Rattenfänger-Theater ist zu jeder vollen Stunde zu sehen.
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