Fortsetzung von Freitag, 27. Juli 2012

Der Weg nach Riga verlief, abgesehen von vielen Baustellen, ereignislos. Wir fuhren quer durch Rigas Zentrum und erhaschten einen ersten Blick auf die viel gerühmte Jugendstil-Pracht. Werner (unser Navi) lotste uns in die nördliche Peripherie der Hauptstadt, wo Plattenbauten dominieren. Wir wussten nicht viel über unser nächstes Couchsurfing-Quartier und freundeten uns mit dem Gedanken an, in einem der sanierungsbedürftigen Hochhäuser zu übernachten.

Schließlich standen wir aber doch vor einem übermannshohen Zaun, der ein hübsches altes Einfamilienhaus umgab. Ich klingelte und ließ meine Füße von einem freundlich winselnden Schäferhund beschnüffeln, der seine Nase unter dem automatischen Tor hindurch schob. Ansonsten tat sich nichts, und da wir eine halbe Stunde vor der per E-Mail verabredeten Zeit angekommen waren, stiegen wir kurzerhand wieder ins Auto und suchten nach einem Picknickplatz.
Am Fluss fanden wir ein schönes Eckchen, wo wir unsere Kühltruhe auspackten und im Abendlicht im Stehen die herzhaften Leckereien aus der Bäckerei verputzten.

Wieder zurück am Couchsurferhaus klingelten wir erneut, diesmal mit mehr Erfolg. Eduards, selbst grad von der Arbeit zurückgekommen, öffnete uns sein kleines Stückchen Idylle zwischen den Plattenbauten. Das schmucke Holzhaus, seit über hundert Jahren im Familienbesitz, bot genügend Platz für seine fünfköpfige Familie, eine Wohnung für seine Mutter im Erdgeschoss und ein geräumiges Gästezimmer für uns. Eduards ist Großhändler für Fenster, Türen und solche Sachen und ständig geschäftlich unterwegs. Jetzt aber war er zu Hause und seine Frau und die drei Kinder bei den Großeltern auf dem Land.

What a contrast - the beautiful house of our couchsurfing hosts was surrounded by ugly precast concrete high-rise buildings.

What a contrast – the beautiful house of our couchsurfing hosts was surrounded by ugly precast concrete high-rise buildings.

Unsere Jungs waren zufrieden, das Spielzeug der kleinen Emilija ausprobieren zu dürfen (ihre großen Brüder Elans und Edgars hatten ihr Lego während ihrer Abwesenheit lieber vor den unbekannten Couchsurfer-Kindern in Sicherheit gebracht). Wir Erwachsenen saßen noch bis spät abends bei Tee und Bier zusammen in der Küche und erörterten die großen Probleme der Weltpolitik – äußerst interessant mit jemandem, der einen so völlig anderen Blickwinkel hat.

Heute haben wir uns dann Riga angesehen. Da Edwards uns vor dem Park-Chaos gewarnt und uns bewachte Parkplätze empfohlen hatte, die teurer waren als das Busticket dorthin, entschieden wir uns für den öffentlichen Nahverkehr. Schon auf dem Weg durch die breiten Boulevards sahen wir aus dem Busfenster die bezaubernden Fassaden der Jugendstil-Metropole.

Riga, the world's capital of Art Nouveau.

So viel zu gucken!

Unser Reiseführer wollte uns zu einem Spaziergang in die imposanteren Viertel etwas außerhalb bewegen, doch so weit kamen wir gar nicht. Selbst in der unmittelbaren Innenstadt lohnte sich an beinahe jedem Haus ein ausführlicher Blick nach oben.

So viele verspielte Details, so viele Schnörkel, Ranken und Fabelwesen! Fast alle Gebäude waren umsichtig saniert und in einem guten Zustand. Auch hier wirkte alles sehr mitteleuropäisch, abgesehen von der extremen Sauberkeit. Eduards erzählte uns später, dass die Letten den von der Regierung geschürten Ehrgeiz haben, als sauberstes Land Europas zu gelten. Zweimal jährlich geben Unternehmen ihren Arbeitnehmern einen Vormittag frei, damit diese sich am landesweiten Müllsammeltag beteiligen können. Ich frage mich allerdings, was sie da finden wollen, denn es liegt ja nichts rum!

Wir schlenderten durch einen hübschen Park, vorbei am baltischen Äquivalent der Freiheitsstatue. Milda, so der Name der Dame, wurde 1935 errichtet und überstand die komplette Besatzungszeit unbeschadet. Erst dachte ich, die drei goldenen Sterne in ihren Händen symbolisierten die drei baltischen Staaten. Inzwischen habe ich nachgelesen, dass sie sich lediglich auf die drei lettischen Provinzen bezieht. Von der baltischen Einheit, die wir Westeuropäer immer für so selbstverständlich halten, ist hier überhaupt nichts zu spüren. Im Gegenteil – in Litauen lästerte Giedre über die hochnäsigen Esten, die trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit sämtliche Medienaufmerksamkeit als Reiseziel für sich beanspruchten, und Edwards ließ durchklingen, dass die Schwesternstaaten ohne wirkliche Großstadt wohl kaum in derselben Liga spielten wie Lettland und seine Hauptstadt.

Milda, Latvias version of Miss Liberty.

Milda, Lettlands Miss Liberty.

Im Zentrum schauten wir uns die ganzen Sehenswürdigkeiten von außen an: die Gildehäuser, den Pulverturm, das Schwarzhäupterhaus. Die Jungs zeigten sich entzückt über das „Katzenhaus“, das ein reicher lettischer Kaufmann mit zwei beleidigten Katzen verziert hatte. Diese zeigten der Fassade des opulent geschmückten Sitzes der Großen Gilde ihr Hinterteil, da jene dem Einheimischen die Aufnahme in die ausschließlich deutsche Gesellschaft verwehrt hatte. Überhaupt ist der deutsche Einfluss der Hansestadt an jeder Ecke spürbar. Das Kapital kam hier früher immer aus dem Reich, man blieb weitgehend unter sich, und die einheimische Bevölkerung konnte sehen, wo sie blieb. Erstaunlich, dass wir Deutschen trotzdem immer noch in so hohem Ansehen stehen. Die Letten wissen aus bitterer Erfahrung: Schlimmer geht’s immer. Selbst Russen sind heute als Touristen aber wieder willkommen. Oft mit einem Zähneknirschen allerdings.

The House with the Cats - there are two of them, and they used to show their behind to the German Guild House because being a Latvian, the owner was not allowed in there

Miau.

Mangelnde Geschäftstüchtigkeit kann man den Letten jedenfalls nicht vorwerfen. Die Stadt platzt aus allen Nähten mit Touristen. An jeder Ecke werden Souvenirs der üblichen Qualitätsstufen angeboten, und auch das Preisniveau kann mit jeder deutschen Großstadt mithalten. Da wir keinen Bäcker fanden, setzten wir uns in der Mittagszeit schließlich doch in ein Café. Wir waren extra schon in die Seitenstraßen ausgewichen und gönnten uns lediglich eine Suppe bzw. eine als Nachtisch klassifizierte regionaltypische Kaltschale. Trotzdem sind wir mehr als 40 Euro losgeworden. Ein fieser Kontrast zu Polen und Litauen.

Sehr gut gefallen hat uns das Stadtmuseum. Ohne den Reiseführer hätten wir es gar nicht gefunden. Es ist im dritten Stock des Regierungsgebäudes untergebracht, nur ein winziges lettisches Schild weist darauf hin, und man muss den Mut aufbringen, die Tür neben dem Wache stehenden Ehrengardisten zu öffnen. Dann geht es ein nicht weiter repräsentatives Treppenhaus hinauf, vorbei an der Tür der Präsidentenkanzlei. Hat man das Museum erreicht, kann man sich in der soliden, konservativen Ausstellung über Rigas Anfänge in der Steinzeit bis zu zeitgeschichtlichen Entwicklungen informieren. Die Jungs waren ganz in ihrem Element, interessierten sich brennend dafür, wie die Löcher in die prähistorischen Steinäxte gefeilt wurden, was es mit den mittelalterlichen Heiligenfiguren auf sich hatte und wie die Münzprägung funktionierte. Wir alle setzten uns intensiv mit der Erlangung der Souveränität auseinander, die in einer Sonderausstellung im Turm thematisiert wurde. Auch ich hab viel Neues gelernt, zum Beispiel war mir nicht bewusst gewesen, dass Napoleons Armeen durch Riga marschierten und eine westfälische Brigade die Stadt eroberte.

Jetzt toben die Jungs gerade auf einem Spielplatz. Gnädig lassen sie einen kleinen Jungen mitspielen, dessen sichtbar russische Mutter von den anderen Spielplatzmüttern offenbar geschnitten wird.