Loch Ness, Loch Lomond, Loch Lochy: Die langgezogenen Seen zwischen den grünen Bergen prägen das typische Schottland-Bild mindestens ebenso sehr wie baumstammwerfende Männer in Kilts. Was sich in den teils bemerkenswert tiefen Tiefen verbirgt, ist immer wieder Gegenstand fantasievoller Spekulationen. Eine große Zahl Unter-Wasser-Geheimnisse sind aber weitgehend gelüftet und werden immer besser erforscht: die Crannogs, deren Überreste sich auf dem Grund fast aller schottischer Seen gefunden haben, und die oft heute noch in Form merkwürdiger kleiner Felseninselchen aus dem Wasser ragen. Im Schottland der Eisenzeit lebte nämlich zumindest eine gewisse gesellschaftliche Schicht AUF dem See – in Pfahlbauten. Ganz lebendig wird das Leben auf dem Loch heute noch im Scottish Crannog Centre am Loch Tay.
Ich muss zugeben: Trotz ausgeprägtem geschichtlichen Interesse und großer Schottland-Liebe habe ich noch nie von Crannogs gehört, als mir beim vorfreudigen Erkunden unseres Reisegebiets per GoogleMaps plötzlich das Scottish Crannog Centre am Loch Tay ins Auge springt. Einen Klick später bin ich zumindest etwas schlauer: Crannogs sind prähistorische Pfahlbauten, die vermutlich ab der späten Jungsteinzeit (also grob gesagt vor rund 4000 Jahren) auf den schottischen Lochs errichtet wurden. Ihre Blütezeit erlebte diese Bauweise vermutlich in der Eisenzeit (vor ungefähr 2000 Jahren). Viele dieser Bauten waren aber wohl noch sehr viel später in Gebrauch – vereinzelt bis ins 17. Jahrhundert.
Das Scottish Crannog Centre in Kenmore
Mehr Infos sowie ein tolles Erlebnis in Sachen lebendiger Geschichte verspricht uns die Webseite des Crannog Centres bei einem Besuch. Also fahren wir einfach mal hin.
Das Scottish Crannog Centre in Kenmore bei Aberfeldy liegt direkt am Loch Tay, aber trotzdem etwas abseits der Touristenströme. Um zum recht kleinen, kostenpflichtigen Parkplatz zu gelangen, holpern wir ein ganzes Stück über eine single track road am Seeufer entlang. Ohne Navi wären wir aufgeschmissen. Aber dann sehen wir auch schon das hölzerne Rundhaus, das am Ende eines Stegs aus dem Wasser ragt. Kernstück der Institution nämlich ist die Rekonstruktion des Oakbank Crannogs am Originalfundplatz.
Was sind Crannogs überhaupt?
Der Begriff „crannóg“ stammt offenbar aus dem Gaelischen und ist eine Zusammensetzung aus den Wörtern für Baum oder Pfahl und Insel. Die ersten Crannogs fand man in Irland, als wegen des Torfabbaus der Grundwasserpegel sank und an etlichen Stellen im See Überreste jener Bauten zutage traten. Bereits in den 1880er Jahren waren mehr als 200 Crannogs in Irland bekannt. Da die Archäologie als solche damals noch in den Kinderschuhen steckte und Unter-Wasser-Ausgrabungen sich mit den zur Verfügung stehenden Techniken mehr als schwierig gestalteten, passierte nach den Entdeckungen zunächst einmal nicht viel.
Was man entdeckt hatte, wusste man aber offensichtlich. Immerhin waren einzelne der künstlichen Felseninseln noch bis ins 17. Jahrhundert in Benutzung – in veränderter Form freilich, aber doch.
Auch die ersten ernstzunehmenden Untersuchungen in den 1930ern fanden in Irland statt. Dass es in Schottland mindestens genauso viele Crannogs gab, blieb zunächst unentdeckt. Heute sind allein in Schottland mehr als 3000 Standorte bekannt.
Unser Besuch im Crannog Centre
Update: Im Juli 2021 ist der rekonstruierte Crannog während einer Dürreperiode komplett abgebrannt. Inzwischen ist das Scottish Crannog Centre aber durch Spenden wieder aufgebaut worden und geöffnet. (Mehr darüber steht hier im The Scotsman.) Ob der Rest unseres Erfahrungsbericht noch ganz genau hinkommt, kann ich deshalb nicht versprechen. Aber er soll euch zumindest Lust machen, selbst hinzufahren und das neue Centre anzuschauen…)
Wir haben Glück: Kaum betreten wir das kleine Museumsgebäude, als auch schon eine Führung beginnt. Normalerweise besichtigen Besucher zunächst die kleine Ausstellung der Fundstücke, bis sich genügend Gäste angesammelt haben. Der Crannog-Nachbau im See darf nämlich nur gemeinsam mit einem der eisenzeitlich gewandeten Guides betreten werden.
Führung in Kleingruppen
Und das ergibt durchaus Sinn, denn Alycia Hayes führt uns auf lebendige Weise in die Geschichte der See-Besiedlung ein. Gemeinsam mit etwa 15 anderen Besuchenden betreten wir den Pfahlbau und nehmen auf den einfachen Holzbänken im Inneren des Holzhauses Platz. Alycia fragt, wo wir alle herkommen. Heute sind Menschen aus Israel und Griechenland dabei. Gäste aus Amerika und Deutschland sind wohl immer eine feste Größe. Solche aus England und natürlich Schottland bilden den größten Teil der Gruppe.
Der lebendig gestaltete Vortrag im Crannog dauert etwa eine Dreiviertelstunde. Alycias Englisch ist gut zu verstehen. Auch die Jungs kriegen schon das meiste mit. Bei etlichen Fach-Vokabeln muss ich freilich helfen. Da ohnehin immer wieder Pausen entstehen, wenn Alycia Exponate herumgibt, sind meine geflüsterten Ausführungen auf Deutsch kein Problem.
Aber ich merke schon, wie solche Hilfsarbeiten immer weniger notwendig werden. Da sich auch die schottischen, englischen und amerikanischen Kinder der Gruppe rege an den Frage-Antwort-Spielen beteiligen, will zumindest Silas nicht zurückstehen und rät souverän mit: Warum fand man bei der gründlichen Untersuchung des Originalfundorts haufenweise vorzeitlichen Müll, aber kein einziges wertvolles Stück? Was verrät uns der gefundene Tontopf mit den kohlrabenschwarzen Rückständen am Boden? Und wieso machten sich die damaligen Schotten und Schottinnen überhaupt die Mühe, ihre Häuser auf dem Wasser zu errichten?
Die Antwort zu den genannten Fragen will ich euch nicht vorenthalten.
Erkenntnisse aus dem Müll – und wie Crannogs gebaut wurden
Die schottischen Crannogs der Vorzeit hatten eine sehr begrenzte Lebensdauer. Beim Bau an neuer Stelle war es noch recht einfach, angespitzte Baumstämme in den Lehm am Grund des Sees zu bohren. Denn durch die Drehbewegungen dabei kam ein Mechanismus in Gang, durch den der Matsch den Fremdkörper quasi fest ansaugte.
Nach etwa 30 Jahren aber wurden die ursprünglichen Pfähle langsam marode und mussten ausgetauscht werden. Die Ersatzbalken hielten nicht mehr so gut im ursprünglichen Loch. Außerdem war in der Zwischenzeit der Seegrund schon mit einer dicken Sedimentschicht aus eisenzeitlichem Müll bedeckt. Vor allem das Gemisch aus Reisig und Gräsern, mit dem die Bewohnenden ihren Fußboden isolierten, rieselte konstant durch die Balkenritzen hernieder. – Super für die Archäologie, da so sämtliche Hinterlassenschaften luftdicht konserviert wurden. Doof für die Crannog-Leute, da sie ihre Ersatzpfähle nun umständlich mit Steinen abstützen mussten. Ein paar Mal ging das gut, aber irgendwann wurde das Konstrukt zu instabil.
Nach spätestens 100 Jahren wohl gab man seinen Crannog auf und baute sich einfach ein Stück das Ufer runter einen neuen. Alles Wertvolle nahm man dabei natürlich mit. So sind im Loch Tay bisher 18 Crannogs lokalisiert worden – die aber wahrscheinlich nie alle zur selben Zeit bewohnt waren, sondern nacheinander.
Warum wir über die Kochkünste der Eisenzeit-Leute lästern dürfen
Die Scherben des oben erwähnten Tontopfes gehören zu den Prachtstücken in der Sammlung der Dinge, die rund um den rekonstruierten Oakbank Crannog von Loch Tay gefunden wurden.
„Und sie erzählen uns gleich eine ganze Reihe von Dingen“, führt Alycia aus. Einige erraten Silas und die anderen Kinder und Erwachsenen. Das Naheliegendste jedoch nicht: „An dem Abend, als der Topf hier in den See flog, hat jemand wirklich übel das Essen anbrennen lassen.“ Das Kochgeschirr schien nicht mehr zu retten, also ab damit.
Dass sich die Bewohnenden des Crannogs lieber einen neuen Topf anschafften, als das Malheur aufwändig zu beheben, legt nahe, dass sie reiche Leute waren. Auch andere Indizien sprechen dafür. Die Auswertung der archäologischen Befunde gleicht einem Detektivspiel, an dem Sherlock Holmes seine Freude hätte.
Warum überhaupt wurde der See als „Baugrund“ genutzt?
Was die eisenzeitlichen Menschen dazu veranlasste, ihre Wohnhäuser auf den Seen zu errichten, kann freilich nicht mit Sicherheit geklärt werden.
Nicht nur der angebrannte Topf, vor allem auch tierische Exkremente in der Rieselreisig-Müll-Schicht unter dem Crannog lassen darauf schließen, dass es den Crannog-Familien – abgesehen vom unvermeidlichen Parasitenbefall – ausgesprochen gut gegangen sein muss: Sie konnten es sich leisten, sogar ihr Vieh mit Getreide zu füttern.
Die Siedlungen auf dem See waren weithin sichtbar. Obwohl man vermutlich beim Oakbank Crannog eine Art Zugbrücke einziehen konnte und damit hinlänglich vor wilden Tieren geschützt war, bot die Bauweise ernstgemeinten Angriffen kein echtes Hindernis. Die Wissenschaft vermutet daher, dass damals eher friedliche Zeiten herrschten und gerade die privilegierte Oberschicht eine Wohnung auf dem Präsentierteller wählte, um von fernreisenden Handeltreibenden gefunden zu werden. Dass Luxusgüter erworben wurden, beweisen zumindest entsprechende Funde aus Bronze, deren Rohstoffe mindestens aus dem fast 1000 Kilometer entfernten Cornwall stammen müssen.
Experimentelle Archäologie zum Mitmachen
Das alles und noch viel mehr erfahren wir von Alycia in einem lebhaften Dialog. Natürlich dürfen wir auch alle Fragen stellen, die uns einfallen.
Den kleineren Kindern (und dem jungen Griechen, der vermutlich nicht viel versteht) wird unterdessen schon etwas langweilig. Auch bei den ersten Erwachsenen schwindet die Konzentration. Sie atmen auf, als wir das Haus mit dem schummrigen Licht verlassen und zur nächsten Station an Land zurückkehren.
Auf dem Außengelände des Museums dürfen wir verschiedene Handwerke ausprobieren. Experimentelle Archäologie lautet hier das Stichwort. Webstuhl, Bohrer und Drechselbank sind so nie gefunden worden. Sie haben aber aller Wahrscheinlichkeit nach so funktioniert, wie Alycia es uns vorführt.
Besonders spannend wird es noch einmal, als Alycia uns zeigt, wie umständlich das Feuermachen in der Eisenzeit gewesen ist. „Meistens klappt es, manchmal aber auch nicht“, warnt sie uns vor. Mit einem Handbohrer erzeugt sie Reibungswärme, bis die Späne endlich zu glimmen beginnen. Ganz vorsichtig füttert sie die Flämmchen an, bis im Zunderpilz endlich eine richtige Flamme tanzt. Kein Wunder, dass das Herdfeuer im Rundhaus auf dem Crannog wahrscheinlich akribisch bewacht wurde und immer brannte.
Unser Fazit: Lohnt sich das Scottish Crannog Centre?
Aus unserer Erfahrung lohnt sich ein Besuch im Schottischen Crannog Centre für alle, die ein Mindestmaß an geschichtlichem Interesse aufbringen. Die Besichtigung beinhaltet eine lebhafte Einführung in den Alltag der frühen Eisenzeit. Anschließend dürfen alle selbst Hand anlegen an den nachgebauten Werkzeug-Stationen.
Scottisch Crannog Centre mit Kindern
Für kleine Kinder ist das Crannog Centre allerdings eher nicht geeignet. Während der Führung wird ausschließlich Englisch gesprochen. Der Vortrag erfordert mehr als eine halbe Stunde Stillsitzen. Je nach Persönlichkeit der Kinder würde ich acht bis zehn Jahre als Mindestalter empfehlen.
Sobald sie wirklich teilhaben können, kann ein Besuch im Scottisch Crannog Centre für Kinder eine wirklich spannende, lehrreiche und prägende Erfahrung sein.
Zeitrahmen: So lange braucht man im Scottish Crannog Centre
Die Führung dauert mit praktischen Präsentationen und Ausprobieren etwa eine bis eineinhalb Stunden. Wir haben uns im Anschluss noch gründlich die Ausstellung angesehen. So haben wir etwas mehr als zwei Stunden im Crannog Centre verbracht.
Praktische Informationen zum Scottish Crannog Centre
Infos zu Anfahrt, Öffnungszeiten und Eintrittspreisen befinden sich sauber aufgelistet und immer aktuell auf der Webseite des Scottisch Crannog Centres.
Um kurz eine Hausnummer zu nennen: 2018 kostet der Eintritt für eine Familie (2+2) 32 Pfund, umgerechnet rund 36 Euro. (Die Frage, warum Eintrittspreise in Großbritannien oft so viel teurer sind als in Deutschland, beantworte ich übrigens hier: Familienurlaub in England, Schottland und Wales: Fragen und Antworten.)
Schottische Crannogs andernorts, die man heute noch gut erkennen kann:
- Cherry Island im Loch Ness
- sieben Crannogs im Tal von Kilmartin
- Crannogs auf der Insel Coll
- Generell muss man sich nur einmal umsehen, wenn man am Ufer eines schottischen Sees steht. Oft sieht man in Ufernähe kleine Felseninselchen, die manchmal von einzelnen Bäumen bestanden sind. Die Chancen stehen gut, dass es sich dabei um einen alten Crannog handelt, der so lange erneuert wurde, bis aus dem Pfahlbau mit wachsendem Müllberg und Stabilisierungssteinen eine künstliche Insel wurde.
Prähistorische Pfahlbauten anderswo in Europa
Prähistorische Pfahlbauten auf Seen kommen übrigens nicht nur im britisch-irischen Raum vor.
Im Alpenraum stehen 111 solcher Fundorte aus dem Neolithikum bis in die Eisenzeit als Weltkulturerbe auf der Liste der Unesco, und zwar verteilt auf die Schweiz, Deutschland, Frankreich, Italien und Slowenien.
In Mazedonien am Ohridsee haben wir außerdem ein (rekonstruiertes) ganzes Dorf auf Pfählen aus dieser Zeit besichtigt. (Hier ist mein kurzer Erfahrungsbericht dazu: Ohridsee – antike Ausgrabungen mit Fragezeichen.
Mehr über Schottland mit Kindern
Viele weitere Tipps für Familien gibt es in unserem Reiseführer „Schottland mit Kindern„.* Das kompakte Buch deckt den Westen Schottlands ab der Linie Glasgow – Inverness ab und schließt auch viele Inseln mit ein. Für unsere Wander- und Entdeckertouren gibt es detaillierte Wegbeschreibungen zu den schönsten Orten für Kinder – samt Karte.
Aktuell arbeiten wir an der zweiten Auflage und kontrollieren dafür alle Touren. Wichtige Änderungen notieren wir bis zum Druck der Neuauflage im Blog des Naturzeit-Verlags.
Hier geht es zu meiner Zusammenfassung unserer Schottland-Rundreise mit Kindern im Sommer 2018, von wo aus Links zu vielen anderen Schottland-Artikeln führen:
Highlands & Islands: Schottland-Roadtrip mit Kindern
Und alle meine mittlerweile über 30 Schottland-Artikel findet ihr hier:
Schottland mit Kindern – unsere gesammelten Erfahrungen
Transparenz-Hinweis: Als Blogger brauchten wir im Scottish Crannog Centre keinen Eintritt bezahlen. Dieser Fakt hat meine Meinung über das Museum aber nicht beeinflusst.
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