Einen Tag verbringen wir auf unserer Großbritannien-Reise mit unseren beiden Jungs (7 und 9 Jahre alt) in der Hauptstadt. Nach unseren Abenteuern im British Museum und an Gleis 9¾ machen wir uns auf den Weg ins Londoner Stadtzentrum.

Unser erster Stopp ist Tower Hill. Direkt am Ausgang der Underground-Station laufen wir an den freigelegten Fundamenten der Römerstadt vorbei. Das hier ist das allerälteste Stückchen London. Wenden wir den Blick nach links, sehen wir die Reste einer Mauer, die die Stadt seit dem 2. Jahrhundert umgab. Ein paar Meter weiter gibt es eine Aussichtsplattform mit Blick auf den Tower of London.

Am Geländer entlang verläuft eine Info-Tafel, die das älteste erhaltene Gebäude der Stadt recht detailliert beschreibt. In der Mitte des Platzes befindet sich eine riesige Sonnenuhr, in deren Sockel ein in Bronze gegossener Überblick über die Londoner Stadtgeschichte informiert. Die Jungs bringen erstaunlich viel Enthusiasmus auf, die stilisierten Bilder selbst zu deuten, bevor wir gemeinsam die Beschreibung übersetzen. So erfahren wir etwas über die Entwicklung der Bevölkerungszahlen, die durch Pest und Cholera mehrere Dämpfer erfuhr, über große Erfindungen und Verbesserungen wie die U-Bahn und die Kanalisation. Wir lernen, dass die keltische Königin Boudicea die Stadt im Jahr 61 mit ihren Truppen in Schutt und Asche legte, und dass die Eröffnung der Underground 1863 eine Weltsensation darstellte. An diesem kleinen Kunstwerk, das von den vorbeiströmenden Passanten kaum beachtet wird, erfahren wir mehr über die Stadtgeschichte als im British Museum.

Highly interesting on second glance: the monument on the viewing platform at Tower Hill station shows London's history from the early beginnings till today.

Gratis-Geschichtsstunde an der frischen Luft.

Wir folgten dem Fußweg am Tower vorbei und überquerten die Tower Bridge. Ich wunderte mich über die Farbgestaltung. War das Geländer schon immer türkis? Irgendwie hatte ich die Brücke in rot und weiß in Erinnerung. Unter uns floss träge die graubraune Brühe, die sich Themse nennt. Die Jungs gewährten den Touristen auf den Ausflugsbooten die Gnade, zurückzuwinken, was besonders asiatische Reisegruppen in helle Begeisterung versetzte. Neben uns gab eine Familie in traditioneller indischer Kleidung nach gut zehn Minuten den vergeblichen Versuch auf, den Strom der Touristen für ein Foto „Frau und Kinder an Brückengeländer“ aufzuhalten. Generell sind auch hier unglaublich viele Touristen unterwegs, vor allem Asiaten und Inder. Na gut, mitten auf Londons Wahrzeichen darf mich das natürlich nicht überraschen…

Hinter der Brücke biegen wir rechts ans Themse-Ufer ab und machen das Foto, das alle von der Tower Bridge machen – allerdings ohne selbst affektiert vor der Kamera zu posieren. Ich merke, wie ich schon wieder Aggressionen gegen meine zu sich Massen ansammelnden Mitmenschen entwickle und erinnere mich daran, dass ich hier selbst ein Tourist und keinesfalls besser als anderen Touristen bin – ein Fakt, den ich nur zu gerne verdränge. Die Jungs haben inzwischen zwei große Jungs mit Straßenkünstler-Ambitionen entdeckt, die zur Freude aller anwesenden Kinder riesige Seifenblasen zaubern.

Many tourists crowd at the river banks to take that photo of the bridge. Our kids watch some guys blowing giant soap bubbles.

Pflichtnummer.

Rund um die City Hall ist hier ein stylisches Viertel mit massenweise modernster Architektur entstanden. Zu unserer Überraschung gibt es hier bezahlbares Mittagessen in den kleinen, durchaus nett gestalteten Snack-Bars. Für die Kinder gibt es viel Platz zum Rumrennen und einen schmalen Wasserlauf, in dem sich auch Kleinkinder vollkommen ungefährdet nasse Füße holen können. Wir machen Bekanntschaft mit einer öffentlichen Toilette. Die Schlange davor ist eigentlich nicht lang, aber es dauert lange, bis Silas endlich an der Reihe ist. Der Preis von 20 pence erscheint mir vollkommen in Ordnung. Dem natürlichen Drang, das Bezahlen zu umgehen und dem nächsten durch Aufhalten der Tür den Münzeinwurf zu ersparen, wirkt hier ein zeitraubender Mechanismus entgegen: Die Toilette spült automatisch, aber erst, wenn der Nutzer die Tür hinter sich geschlossen hat. Um zu verhindern, dass der nächste sich schon zu dieser Gelegenheit einschleicht, wird die ganze Kabine komplett durchgespült.

Nicht weit entfernt befindet sich die Hay’s Gallerie, eine hübsch zurechtgemachte Ansammlung höherpreisiger Cafés, Restaurants und Geschäfte an einem überdachten Platz, auf dem ein schmucker Brunnen in Steampunk-Design prangt.

Wir nehmen die Tube bis Westminster. Inzwischen stecken wir mitten in der Rush Hour. Ganz London, so scheint es, hat Feierabend und will mit der U-Bahn nach Hause fahren. Die Wagen sind flach und so röhrenartig, wie ihr Name vermuten lässt. Immer mehr Menschen drängen hinein, bis ich mich an die dicht gepackte Verladung afrikanischer Sklaven in Richtung Baumwollplantagen erinnert fühle. Ich bin kein Mensch, der zu Platzangst neigt, aber ich kann jeden verstehen, dem hier der kalte Schweiß ausbricht.

Typically London: Big Ben and grey skies.

Typisch London: Big Ben und grauer Himmel.

An der Haltestelle Westminster werden wir ans Tageslicht geschoben und stehen direkt vor Big Ben. Die Jungs zeigen sich beeindruckter als ich ihnen zugetraut hätte. „Ist das echtes Gold da oben?“ fragt Janis fasziniert. Der Turm besitzt die Güte, pünktlich in sein typisches Gebimmel auszubrechen.

Wir schlendern an den Houses of Parliament entlang und bestaunen die eindrucksvolle Detailfülle der Fassadengestaltung. So viele Türmchen und Türmchen an den Türmchen! Es empfiehlt sich jedoch, den Blick nicht nur nach oben zu richten. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich denjenigen beneide, der seinen Lieben zu Hause berichten kann: „Und dann habe ich direkt vor die Houses of Parliament gekotzt!“

Inzwischen stellt sich bei uns der Hunger ein. Wir suchen nach einem Supermarkt oder einem günstigen Restaurant. Hier an der Westminster Abby sind wir da natürlich völlig falsch. Nach Büroschluss ist das Viertel wie ausgestorben. Alle Bürgersteige werden hochgeklappt.

Die Jungs jammern, dass ihre Füße abgelatscht seien. Ich kann sie gut verstehen. Durch den St. James Park laufen wir zurück Richtung Victoria Station. Der Park weckt ihre Lebensgeister, denn hier gibt es alle möglichen Wasservögel zu sehen. Seit König Charles II. 1664 vom russischen Botschafter ein paar Pelikane geschenkt bekam, hat sich hier ein halber Zoo angesammelt. Außerdem locken zahme Eichhörnchen und ein netter Spielplatz. Für einen Zwischenstopp im Großstadtgetümmel mit Familie ist dieser Ort wahrhaft ideal.

I like the fence better than the palace (at Buckingham Palace).

Der Zaun beeindruckt uns bald mehr als der Palast.

Passabel gelaunt erreichen wir schließlich den Buckingham Palace, der zu sehr auf unserer Strecke liegt, um ihn auszulassen. Das Gebäude selbst beeindruckt mich auch nicht mehr als bei meinem ersten Besuch 2002, aber der schmiedeeiserne Zaun mit den vergoldeten Spitzen  ist durchaus sehenswert. Wie alle anderen stecken wir die Nasen durch das Gitter und beobachten die seltene Spezies der Palastwachen, deren Job es ist, regungslos neben den Türen Wache stehen und sich von Touristen anstarren zu lassen. Als wir bei unserem fortgesetzten Spaziergang am Besuchereingang vorbeikommen, nehmen zur Kenntnis, dass wir das Wohnhaus der Queen mit einem Familienticket für schlappe 50 Pfund (rund 60 €) auch besichtigen könnten.

Endlich erreichen wir eine Gegend mit bezahlbaren Restaurants. Nach kurzem Überlegen entscheiden wir uns für eine asiatische Nudel-Bar, die den fantasievollen Namen „Noodle Noodle“ trägt. Zu diesem Zeitpunkt wäre uns fast schon alles recht, aber wir sind hochzufrieden, genau hier gelandet zu sein. Die herzliche Bedienung legt enorme Kinderfreundlichkeit an den Tag. Es gibt saubere Toiletten, mehr Ambiente als in der typischen Imbissbude und Gerichte, die selbst inklusive Getränk weniger als 10 Pfund kosten. Nebenbei sind sie sogar noch richtig lecker – das ist mehr, als wir an diesem Tag erwartet haben. Sogar die Jungs verputzen ihre extra mild gewürzte Portion Bratnudeln ratzekahl.

Jetzt sitzen wir wieder im Zug nach Dorking. Als ich begann, diesen Eintrag zu schreiben, brausten wir noch Richtung Horsham in den Sonnenuntergang. Da waren wir völlig falsch, wie wir erst eine halbe Stunde später bemerkten. Also hieß es aussteigen, zurückfahren und an der Clapham Junction in den richtigen Zug umsteigen. Die Jungs waren völlig k.o. und motzten verständlicherweise. Den Ruf der britischen Eisenbahn wahrend, kam unser Zug 45 Minuten zu spät. Bis wir endlich im richtigen Vorort Londons angekommen, mit dem Auto auf den Wanderparkplatz gefahren und die Viertelstunde durch den Wald zu unserer Jugendherberge gewandert waren, war es halb elf. Wenigstens die Nachtwanderung im Taschenlampenlicht haben die Jungs dann aber doch wieder ganz nett gefunden. Trotzdem, Silas’ Fazit lautet: „London ist ja ganz nett, aber ich will da trotzdem nie wieder hin!“ Ich glaube auch, morgen machen wir was anderes. Wir eignen uns einfach nicht so recht als Großstadt-Touristen.

Tired after a long day in London and wrong trains on the way home.

Müder Krieger.

Diesen Eintrag meines Reisetagebuchs habe ich am 12. August 2013 verfasst. Mehr England-Reiseberichte aus jenem Familienurlaub inklusive Karte gibt es in unserem England-Inhaltsverzeichnis.

Übrigens: Ines Rewel vom Blog “My family on tour” war ebenfalls in London. Sie hat dort mehr Zeit verbracht, hat deshalb einen besseren Überblick, und ich empfehle euch ihren Reisebericht und ihre praktischen Tipps für London-Reisen mit Kindern.